Sozial bedingte Ungleichheit von Gesundheitschancen

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Das Konzept sozial bedingte Ungleichheit von Gesundheitschancen bezeichnet den Zusammenhang zwischen sozialen und gesundheitlichen Faktoren. Diese können horizontal und vertikal stratifiziert sein, das heißt, die soziale Ungleichheit in der Gesundheit lässt sich für gleichordnende Unterschiede wie Alter oder Geschlecht, aber auch für unterordnende Differenzen wie Armut, mangelnde Bildung oder für den beruflichen Status nachweisen.[1][2] In der Konsequenz zeigt sich eine statistische Erhöhung der Krankheitsrisiken bei sozial benachteiligten Menschen. Diese Ungleichheit wird von der Sozialepidemiologie, der Medizinsoziologie und in der Forschung zu sozialer Ungleichheit empirisch untersucht.

Hierzu gibt es verschiedene Theorien:

1. Kausalitätshypothese: Armut macht krank: Dies kann sich direkt (Fehl- oder Mangelernährung) oder indirekt (Gratifikationskrise) manifestieren.
2. Selektions- oder Drifthypothese: Krankheit macht arm: Im Umkehrschluss ist es möglich, dass kranke Personen schwerer in das Erwerbsleben integrierbar sind.
3. Armut oder Krankheit werden beide durch einen dritten Faktor ausgelöst.[3]

Soziale Ungleichheit der Gesundheitschancen weltweit

Armut hat häufig Konsequenzen für den Gesundheitszustand.[4]

Auf internationalen Konferenzen hat sich der Terminus „Health Inequality“ (Gesundheitliche Ungleichheit) zur Benennung gesundheitlicher Ungleichheiten zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen durchgesetzt. Die Weltgesundheitsorganisation veröffentlicht Informationen zu Fragen durch Ungleichheit im Gesundheitswesen.[5] Der Zusammenhang von sozialer Ungleichheit und Gesundheit ist auch Gegenstand des Weltgesundheitsreports.[6]

In Kanada gelangte das Thema der sozialen Ungleichheit der Gesundheitschancen durch den LaLonde Report zu allgemeiner Aufmerksamkeit. In Großbritannien wurden durch den Black Report von 1980 die Ungleichheiten dokumentiert.

Die Armutskrankheit AIDS ist für eine rückläufige Lebenserwartung in einigen südafrikanischen Staaten verantwortlich (Quelle: World Bank World Development Indicators, 2004)

Unterschied zwischen armen und reichen Ländern

Es gibt große Unterschiede zwischen armen und reichen Ländern. Die Lebenserwartung in den Entwicklungsländern ist in der Regel kürzer als in den entwickelten Ländern. In einigen Teilen Afrikas ist die Lebenserwartung gar auf unter 33 Jahre gefallen. In Sambia zum Beispiel liegt die durchschnittliche Lebenserwartung bei nur 32,4 Jahren. Zum Vergleich: In Norwegen dagegen sind es 78,9 Jahre. Einer der Gründe dafür ist die AIDS-Epidemie. In Sambia sind 16,5 Prozent der Bevölkerung HIV-infiziert, in Simbabwe sogar 25 Prozent.[7] Als einer der Gründe für die AIDS-Pandemie wird Armut gesehen.[8]

Die Armut in den Entwicklungsländern führt zu schlechter Gesundheitsvorsorge und mangelhafter Ernährung. Dies wiederum wirkt sich nachteilig auf die geistige, motorische und sozial-emotionale Entwicklung aus. Die betroffenen Kinder sind weniger leistungsfähig, erzielen später ein schlechteres Einkommen und können schlechter für ihre eigenen Kinder sorgen: ein Teufelskreis. Weltweit sind 219 Millionen Kinder unter fünf Jahren durch Armut kognitiv eingeschränkt. Das sind 39 Prozent aller Kinder dieser Altersgruppe in den Entwicklungsländern. In Afrika sind es gar 61 %.[9]

Säuglingssterblichkeit in Europa, 2007

Die Säuglingssterblichkeit ist in armen Ländern stark erhöht. Es lassen sich nicht nur zwischen Entwicklungsländern und Industriestaaten, sondern auch zwischen reichen und armen Industriestaaten Unterschiede feststellen.[10]  [11]

Soziale Ungleichheit der Gesundheitschancen in den Vereinigten Staaten

In den Vereinigten Staaten sind die gesundheitlichen Disparitäten zwischen gesellschaftlichen Minderheiten wie Afroamerikanern, Native Americans, asiatischen Amerikanern, Latinos, und Weißen gut dokumentiert.[12] Im Vergleich dieser Minoritätsgruppen mit der weißen Bevölkerung fallen erhöhte Häufigkeit chronischer Krankheiten, höhere Sterblichkeitsrate und schlechtere Gesundheitschancen auf.[12] Unter den krankheitsspezifischen ethnischen Ungleichheiten in den Vereinigten Staaten ist beispielsweise die gegenüber Weißen um 10 % erhöhte Krebsausdehnungs-Rate unter Afroamerikanern zu nennen.[13] Zusätzlich existiert bei erwachsenen Latinos und Afroamerikanern eine, verglichen mit Weißen, ungefähr zweimal höhere Wahrscheinlichkeit, Diabetes mellitus zu bekommen.[13] Die Rate der Herzgefäßkrankheiten, die Wahrscheinlichkeit, an HIV/AIDS zu erkranken, und die Säuglingssterblichkeit sind ebenfalls höher als bei Weißen.[12]

Gegenden, in denen ein Zugang zu frischen Lebensmitteln fehlt, werden in den USA food desert (Lebensmittelwüste) genannt. Dort ist der Weg zum nächsten Supermarkt oder Discounter deutlich länger als zum nächsten Fast Food Restaurant. In diesem Zusammenhang wird es als problematisch bezeichnet, dass in den USA einer Studie des US-Landwirtschaftsministeriums zufolge 23,5 Millionen Menschen, davon ein Zehntel ohne Auto, in Gegenden mit einem extrem niedrigen Durchschnittseinkommen leben und eine Wegstrecke von einer Meile oder mehr bis zum nächsten Supermarkt zurücklegen müssen.[14]

Forscher der Pennsylvania State University entnahmen aus Blutproben von 9-jährigen Jungen, dass sich deren soziales Milieu in der Länge der Telomere spiegelt. Benachteiligte Kinder, die unter chronischem Stress leiden, besitzen kürzere Telomere als sozial besser gestellte. Der Einfluss von chronischem Stress auf die beschleunigte Verkürzung der Telomere wird im Dopamin- und Serotoninhaushalt vermutet.[15]

Psychosoziale Gesundheit

Ein niedriger Sozialstatus ist ein Risikofaktor für psychische Erkrankungen. Dies trifft unter anderem auf die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) zu. Schon bei der Wahrscheinlichkeit, jemals eine traumatisierende Situation zu erleben, lassen sich soziale Ungleichheiten erkennen (Quotenverhältnis 3,2:1 für highschool dropouts: college graduates). Nach dem Erlebnis lassen sich Unterschiede in der Traumaverarbeitung erkennen. Je niedriger der Bildungsabschluss, desto wahrscheinlicher ist es, dass sich das Vollbild der PTBS entwickelt und desto wahrscheinlicher sind komorbide Störungen wie zum Beispiel Alkohol oder Drogenmissbrauch.[16] Die National Vietnam Veterans’ Readjustment Study lieferte wichtige Erkenntnisse über Risiko- und Schutzfaktoren für die Entwicklung einer PTBS bei Vietnamkriegsveteranen. Ein hoher sozioökonomischer Status und eine Collegeausbildung zählten zu den Schutzfaktoren.[17]

Soziale Ungleichheit der Gesundheitschancen in Polen

In Polen führt Armut zu einer schlechteren Ernährung der davon Betroffenen:

Aus Ersparnisgründen werden Mahlzeiten minderer Qualität zubereitet – stark mit Wasser verdünnte Milch, Teigwaren, Pfannkuchen, Kartoffeln, Kohl, Brot mit Schweineschmalz.[18]

Zwar konnte Tarkowska beobachten, dass die Bedürfnisse der Kinder in den Familien – solange diese nicht pathologisch sind – im Vordergrund stehen, doch oft sind sie trotzdem unterernährt und anfällig für Infektionen.[18]

Im Fall einer Krankheit sind Familien oft nicht in der Lage, die Medikamente zu bezahlen.[18]

Die Wohnverhältnisse sind durch Raummangel geprägt. Dieser wird im Winter verstärkt, wenn arme Familien im Winter oftmals nur Teile der Wohnung nutzen, um Heizkosten zu sparen. Um Wasserkosten zu sparen, baden arme Familien zum Teil nur einmal pro Woche; oft werden mehrere Kinder im selben Wasser gewaschen. Zwei, drei oder mehr Menschen müssen sich ein Bett teilen. In den Untersuchungen von Tarkowska teilte eine Frau das Bett mit vier ihrer jüngsten Kinder. Dies kann zur Verbreitung von Infektionskrankheiten beitragen.[18] Im Norden Polens ist die Tuberkulose auf dem Vormarsch und trifft verstärkt sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen. Um die Tuberkulose zu bekämpfen, wurden inzwischen kostenlose Beratungsstellen eingerichtet.[19]

Soziale Ungleichheit der Gesundheitschancen in Deutschland

Armut ist in Deutschland, laut H.G. Schlack, einer der Hauptrisikofaktoren für die körperliche, seelische und geistige Gesundheit.[20] Die ungleichen Gesundheitschancen aufgrund von Armut und Reichtum nehmen in Deutschland zu:

„Die sozial bedingten Unterschiede bei der Gesundheit haben in den letzten 20 Jahren zugenommen. Ein Beispiel: Mehr Frauen und Männer aus der niedrigsten Einkommensgruppe beurteilen heute ihren Gesundheitszustand als ‚weniger gut‘ oder ‚schlecht‘. Bei Frauen und Männern, die sehr gut verdienen, ist eine gegenläufige Entwicklung zu sehen. Armut wirkt sich auch unmittelbar auf die Lebenserwartung aus. Die mittlere Lebenserwartung von Männern der niedrigsten Einkommensgruppe liegt bei der Geburt fast elf Jahre unter der von Männern der hohen Einkommensgruppe. Bei Frauen beträgt der Unterschied acht Jahre.“[21]

Nach Beobachtungen des Robert Koch-Instituts[22] zeigten sich Zusammenhänge von sozialer Schicht und Gesundheitschancen in den Bereichen:

In Untersuchungen wurde festgestellt, dass von Armut betroffene Menschen häufiger unter Übergewicht leiden, häufiger rauchen und weniger Sport treiben. Die Folge sind vermehrte Herz-Kreislauf-Erkrankungen.[23] Winkler und Stolzenberg konnten nachweisen, dass Arme häufiger von Lungenkrebs, Bluthochdruck, Herzinfarkt, Durchblutungsstörungen im Gehirn, Durchblutungsstörungen in den Beinen, Diabetes Typ II, Bandscheibenschäden und Hepatitis betroffen waren als Nichtarme.[24]

Gesundheit und Armut bei Kindern und Jugendlichen

Die Kinderarmut nimmt in Deutschland stark zu.[25] In diesem Bereich ist die Verschränkung von Armut und Gesundheit bedeutsam, weil sie die Möglichkeiten der Kinder auf ein „gutes Leben“ einschränken. Vor der Einschulung werden bei Kindern aus armen Familien bereits vermehrt Entwicklungsverzögerungen und Gesundheitsstörungen festgestellt. Psychiatrische Krankheiten im Kindesalter treten bei ihnen gehäuft auf. Es kommt zu Verzögerungen bei der Sprachentwicklung und einer Verzögerung der intellektuellen und psychomotorischen Entwicklung.[26] Zudem sind sie häufiger von Unfallverletzungen und zahnmedizinischen Problemen betroffen.

In einer Broschüre des Robert Koch-Instituts zum Thema heißt es:

Neben schlechteren Startchancen in Schule und Beruf kommen ein oftmals schlechterer Gesundheitszustand und ungünstige Gesundheitsverhaltensmuster zum Tragen. Gleichzeitig weist die neuere sozialpsychologische Forschung aus, dass die Ergebnisse des Sozialisationsprozesses durch eine Vielzahl von sozioökonomischen Faktoren mitbestimmt werden.[27]

Im Jugendalter lässt sich ein Zusammenhang zwischen sozialer Lage, psychosozialem Wohlbefinden, dem Vorkommen von Schmerzen, sowie dem Gesundheitsverhalten herstellen. Nach Strohmeier sind 80 % der Jugendlichen in den bürgerlichen Vierteln Bochums gesund. In den Trabantenvierteln sind es nur 10 bis 15 Prozent. Als Krankheiten, die mit Kinderarmut einhergehen, nennt er vor allem Übergewicht und motorische Störungen.[28]

Arbeitslosigkeit und Gesundheit

Arbeitslose

Die besonderen physiologischen und psychischen Belastungen, denen Menschen ohne Arbeit ausgesetzt sind, resultieren nicht nur aus der damit verbundenen Armutsgefährdung, sondern auch in den darin liegenden, subtilen Verletzungen der Menschenwürde, die Arbeitslose tagtäglich spüren. Das Robert Koch-Institut stellte fest, dass arbeitslose Menschen einen ungünstigeren Gesundheitszustand haben als Berufstätige:

Die Wahrscheinlichkeit, die eigene Gesundheit weniger gut oder schlecht einzuschätzen, erhöht sich mit der Dauer der Arbeitslosigkeit. Ein oder mehrere Jahre lang arbeitslose Männer geben bis viermal so häufig einen weniger guten oder schlechten Gesundheitszustand an wie berufstätige Männer ohne Zeichen von Arbeitslosigkeit.

Auch das gesundheitsbewusste Verhalten ist weniger ausgeprägt, wobei sich hier ein geschlechtsspezifischer Unterschied zeigt, wie das Beispiel Rauchen verdeutlicht:

Während 49 % der im Bundes-Gesundheitssurvey 1998 befragten arbeitslosen Männer rauchen, sind es unter den berufstätigen männlichen Befragten 34 %. Die Unterschiede bei den Frauen sind mit 31 % Raucherinnen unter den arbeitslosen Frauen und 28 % Raucherinnen unter den berufstätigen Frauen geringer.[29]

Die Auswertung aktueller Krankenkassendaten zeigt:

  • Arbeitslose Männer verbringen mehr als doppelt so viele Tage im Krankenhaus als berufstätige Männer.
  • Arbeitslose Frauen verbringen 1,7-mal so viele Tage im Krankenhaus als berufstätige Frauen.
  • Die Sterblichkeit steigt in Abhängigkeit von der vorausgehenden Arbeitslosigkeitsdauer kontinuierlich.
  • Es wurden Hinweise dafür gefunden, dass Arbeitslosigkeit ursächliche Auswirkungen auf die Entwicklung schwerer Krankheiten hat.[29]

Kinder arbeitsloser Eltern

Kinder arbeitsloser Eltern reagieren häufig mit Entmutigung und Resignation, Verschlechterung der Konzentration,[30] Verhaltensauffälligkeiten und emotionaler Instabilität.[31]

Gesundheit von Alleinerziehenden