Das Volksgericht

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Textdaten
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Autor: Ludwig Storch
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Titel: Das Volksgericht
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aus: Die Gartenlaube
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Erscheinungsdatum: 1853
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[79]
Album der Poesien.
Nr. 1.

Das Volksgericht.




Auf der Zinne seines Schlosses
Sitzt der König schwach und alt,
Ihm zur Seite seines Sohnes
Jugendkräftige Gestalt.
5Auf der leichtgebauten Brücke
Seiner ausgestreckten Hand
Sendet er die trüben Blicke
In sein reich gesegnet Land.

Und er spricht: Ich habe lange
10Für des Landes Wohl geschafft,
Doch es sinken meine Tage,
Es versieget meine Kraft.
All mein Wille, all mein Streben
Weiht ich meines Volkes Heil,
15Doch dem Irrthum preisgegeben
War gar oft mein menschlich Theil.

Immer nur mein Glück gefunden
Hab’ ich in der Andern Glück,
Hinter meinem Königswillen
20Blieb oft weit die That zurück.
Nun am Ziel seh’ ich mit Bangen
Wie Geringes ich vollbracht.
Drum ein mächtiges Verlangen
Ist mir in der Brust erwacht.

25Dir bekannt ist jene Sitte,
Heilig unserm Herrscherhaus:
Löscht der Tod die Lebensfackel
Eines seiner Könige aus,
Wird in Kron’ und Purpurmantel
30Seine Leiche ausgestellt
Seine Thaten, seinen Wandel
Prüfe neben ihm die Welt.

Durch des Königreiches Gauen
Zieht ein Herold hoch zu Roß,
35Ruft: Gestorben ist der König!
Kommt herauf in’s Königsschloß.
In der Königsburg die Hallen
Füllen sich mit Menschen an,
Denn das Thor ist Allen, Allen,
40Selbst dem Aermsten aufgethan.

[80]

Fern doch sind die Würdenträger,
Und die Höflinge sind fern,
Nur das Volk – so will’s die Sitte –
Steh’ um seinen todten Herrn.
45Jeder soll es hier verkünden,
Dem er Leides zugefügt;
Seine Mängel, seine Sünden
Werden schonungslos gerügt.

Und versteckt in naher Kammer,
50Hör’ sein Erbe das Gericht,
Höre auf das strenge Urtheil,
Das der Mund des Volkes spricht.
Was er irrend auf dem Throne
Fehlte und im Frevelmuth,
55Komm’ dem Erben seiner Krone
Und dem ärmsten Knecht zu gut. –

Selbst will ich mein Urtheil hören,
Wie mein Volk es arglos spricht,
Daß ich selbst mein Fehlen sühne,
60Eh’ der Tod mein Auge bricht.
Drum noch heut von dir entsendet
Ruf im Land der Herold aus:
„Unser König hat geendet!
Eilet in sein hohes Haus!“ –

65Und der Sohn vollzieht gehorsam,
Was begehrt der edle Greis.
Dumpf erschallt die Trauerkunde
Durch des Reiches weiten Kreis.
Ungezählte Schaaren wallen
70Weinend zu dem Schloß hinauf,
Und es füllen sich die Hallen
Schnell und wie noch nie zu Hauf.

Auf dem Lager in der Halle,
Mit dem Purpur zugedeckt,
75Auf dem Haupt die goldne Krone,
Liegt der König ausgestreckt.
Und der Katafalk umflossen
Rauscht von düsterm Trauerflor.
Mund und Auge sind geschlossen,
80Aber offen ist das Ohr.

Reiche, Arme, Kinder, Greise
Nahen dem verehrten Leib:
„Unser Vater ist gestorben!
Weh uns!“ klagen Mann und Weib.
85Und das Alter und die Jugend
Gießen Thränenbäche hin.
Jeder rühmt des Königs Tugend,
Jeder seinen edeln Sinn.

Immer neue Klagen stimmen
90Die verwaisten Kinder an.
Alle preisen seine Güte,
Allen hat er wohlgethan.
Und die einzige Beschwerde,
Die ertönt im weiten Saal,
95Daß er scheidend von der Erde
Sie betrübt zum ersten Mal.

Weinend ziehen sie von dannen,
Und das Schloß ist wieder leer. –
Und der Sohn tritt selig lächelnd
100Zum geliebten Vater her.
Doch die Lippen sind entröthet
Und die Wangen starr und kalt.
Ach! den Glücklichen getödtet
Hat der Freude Allgewalt.

 Ludw. Storch.