Selbstbestimmungsrecht der Völker

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Unabhängigkeitsreferendum im Südsudan 2011

Das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist eines der Grundrechte des Völkerrechts. Es besagt, dass ein Volk das Recht hat, frei über seinen politischen Status, seine Staats- und Regierungsform und seine wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung zu entscheiden. Dies schließt seine Freiheit von Fremdherrschaft ein. Dieses Selbstbestimmungsrecht ermöglicht es einem Volk, eine Nation bzw. einen eigenen nationalen Staat zu bilden oder sich in freier Willensentscheidung einem anderen Staat anzuschließen.[1]

Heute wird das Selbstbestimmungsrecht der Völker allgemein als gewohnheitsrechtlich geltende Norm des Völkerrechtes anerkannt. Sein Rechtscharakter wird außerdem durch Artikel 1 Ziffer 2 der UN-Charta, durch den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR) sowie den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (IPWSKR), beide vom 19. Dezember 1966, völkervertragsrechtlich anerkannt. Damit gilt es universell.

Geschichte

Beginn

Das Prinzip der Selbstbestimmung wurde in der Philosophie der Aufklärung ausdrücklich formuliert und war zunächst ein individuelles Recht, eng verbunden mit dem Kantischen Begriff der Mündigkeit. Die Wandlung zum Gruppenrecht begann bereits mit dem Ringen um die Religionsfreiheit.

1659 erschien die Schrift Gentis Felicitas des Johann Amos Comenius (frei übersetzt bedeutet der Titel: „Volkswohlfahrt“). Die Schrift beginnt mit der Definition des Begriffs Volk und leitet im zweiten Absatz aus dem individuellen Glücksstreben auch das Nationale her:

„(1) Ein Volk […] ist eine Vielheit von Menschen, die aus gleichem Stamme entsprossen sind, an dem selben Ort der Erde […] wohnen, gleiche Sprache sprechen und durch gleiche Bande gemeinsamer Liebe, Eintracht und Mühe um das öffentliche Wohl verbunden sind.
(2) Viele und verschiedene Völker gibt es […], sie sind alle durch göttliche Fügung in diesem Charakterzug gekennzeichnet: wie jeder Mensch sich selbst liebt, so jede Nation, sie will sich wohlbefinden, im wechselseitigen Wetteifer sich zum Glückszustand anfeuern.“

Danach stellt Comenius (jeweils mit Begründung und Erläuterung) 18 Merkmale für „Volkswohlfahrt“ zusammen, darunter einheitliche Bevölkerung ohne Mischung mit Fremden, innere Eintracht, Regierung durch Herrscher aus dem eigenen Volk und Reinheit der Religion.


Im späten 18. Jahrhundert wurde neben dem allgemeinen Selbstbestimmungsrecht die Idee einer „Volkssouveränität“ formuliert. So richteten sich die Französische Revolution und der Amerikanische Unabhängigkeitskrieg gegen das dynastische Prinzip. „Volk“ ist in vielen Revolutionen jedoch als politische Kategorie zu verstehen, die sich in „vertikaler“, das heißt zu den klassischen Herrschaftseliten (Adel, König), nicht aber in „horizontaler“ (im Gegensatz zu anderen Volksgruppen) Abgrenzung manifestiert. Der Anspruch auf Selbstbestimmung, auf Selbstorganisation nach innen und Unabhängigkeit nach außen steht dabei auch mit dem Konzept einer Nation in Verbindung.[2] Insofern ist das Selbstbestimmungsrecht mit der Idee der Volkssouveränität eng verbunden. Voraussetzung für die Idee der politischen Selbstbestimmung war die Herausbildung des politischen Volksbegriffs.

In den von der Französischen Revolution motivierten Bestrebungen zur Bildung von Nationalstaaten im Europa des 19. Jahrhunderts gab es unterschiedliche Interpretation des Volksbegriffs. So spielte zum Beispiel die Sprache eine wichtige Rolle. Es entstand mit der Durchsetzung des politischen Volksbegriffes nach der Revolution von 1848 die Idee des Nationalitätenprinzips, wonach sogar jede Volksgruppe das Recht auf einen (eigenen) Staat habe. Dies richtete sich vor allem gegen die vielvölkerstaatlichen Königs- und Kaiserreiche des damaligen Europas.

Österreich und Preußen hatten im Prager Frieden von 1866 eine freie Abstimmungsmöglichkeit für die Einwohner der nördlichen Distrikte von Schleswig vereinbart. Die dänischen Forderungen dafür waren unbeachtet geblieben.

Seit dem Ersten Weltkrieg

Die Idee des Selbstbestimmungsrechts der Völker wurde von Lenin im Oktober 1914 propagiert.[3] Leo Trotzki forderte 1915 im Zimmerwalder Manifest, dass das „Selbstbestimmungsrecht der Völker […] unerschütterlicher Grundsatz in der Ordnung der nationalen Verhältnisse sein“[4] müsse. Nach der Oktoberrevolution unterzeichneten Lenin und Stalin das Dekret über die Rechte der Völker Russlands, auf dessen Grundlage sich u. a. Finnland und die Ukraine als unabhängige Nationalstaaten konstituierten. Während die Sowjetregierung das Selbstbestimmungsrecht für Finnland im Dezember 1917 anerkannte, verweigerte sie es der Ukraine.[5] Nach Gründung der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) im Juli 1918 begann die Sowjetregierung, die sich selbstbestimmenden, abgefallenen Völker gewaltsam zu unterdrücken und wieder dem Staat einzuverleiben.[6] US-Präsident Woodrow Wilson legte am 8. Januar 1918 sein 14-Punkte-Programm für einen Friedensschluss und eine Friedensordnung für die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg vor, dem das Selbstbestimmungsrecht der Völker zugrunde lag.[7]