Hildebrandslied

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Erstes Blatt des Hildebrandsliedes

Das Hildebrandslied (Hl) aus dem 9. Jahrhundert ist das älteste und einzige überlieferte Beispiel eines germanischen Heldenliedes der deutschen Literatur und eines der frühesten poetischen Textzeugnisse der deutschen Sprache überhaupt. Das Fragment schildert den Beginn einer Episode aus den Sagen um Dietrich von Bern, in der es um den tragischen Zweikampf zwischen Dietrichs Gefolgsmann Hildebrand und dessen Sohn Hadubrand geht. Es besteht aus althochdeutschen bzw. altsächsischen Stabreimen, die gewöhnlich in 68 Langverse eingeteilt werden.

Wegen seines Alters und seiner Einzigartigkeit ist das Hildebrandslied ein zentrales Forschungsobjekt germanistisch-mediävistischer Sprach- und Literaturwissenschaft. Seinen heutigen geläufigen Titel erhielt der anonym verfasste Text durch die wissenschaftlichen Ersteditoren Jacob und Wilhelm Grimm. Der Codex Casselanus, der das Hildebrandslied enthält, befindet sich in der Handschriftensammlung der Landes- und Murhardschen Bibliothek Kassel.

Inhalt und Aufbau

Beim Hildebrandslied handelt es sich um eine sogenannte Spross-Sage, die von Lesern und Zuhörern Vorwissen über den Sagenkreis um Dietrich von Bern verlangt.[1] Innerhalb dieses Kreises gehört die Hildebrandsage mit dem Zweikampfmotiv als grundlegender Fabel zu den wichtigsten.[2] Ihre Anfangsverse lauten:

althochdeutsch

Ik gihorta dat seggen,
dat sih urhettun ænon muotin,
Hiltibrant enti Hadubrant untar heriun tuem.
sunufatarungo iro saro rihtun.
garutun se iro gudhamun, gurtun sih iro suert ana,
helidos, ubar hringa, do sie to dero hiltiu ritun.

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Ich hörte (glaubwürdig) berichten,
dass zwei Krieger, Hildebrand und Hadubrand, (allein)
zwischen ihren beiden Heeren, aufeinanderstießen.
Zwei Leute von gleichem Blut, Vater und Sohn, rückten da ihre Rüstung zurecht,
sie strafften ihre Panzerhemden und gürteten ihre
Schwerter über die Eisenringe, die Männer, als sie zu diesem Kampf ritten.

Übertragung: Horst Dieter Schlosser: Althochdeutsche Literatur. Berlin 2004.

Zweites Blatt des Hildebrandsliedes

Handlung bis zum Ende des Fragments

Hildebrand hat Frau und Kind verlassen und ist als Krieger und Gefolgsmann mit Dietrich in die Verbannung gezogen.[3] Nun kehrt er nach 30 Jahren heim. An der Grenze, zwischen zwei Heeren, stellt sich ihm ein junger Krieger entgegen. Hildebrand fragt ihn, wer sin fater wari (wer sein Vater sei). Hildebrand erfährt, dass dieser Mann, Hadubrand, sein eigener Sohn ist. Er gibt sich Hadubrand zu erkennen und versucht durch das Angebot von Geschenken (goldenen Armringen), sich diesem verwandtschaftlich-väterlich zuzuwenden. Hadubrand weist die Geschenke jedoch brüsk zurück und meint, er sei ein listiger alter Hunne; denn Seefahrer hätten ihm berichtet, dass sein Vater tot sei (tot is hiltibrant). Mehr noch, die Annäherungsversuche des ihm Unbekannten, der sich als sein Vater ausgibt, sind für Hadubrand eine üble Beschimpfung der Ehre seines totgeglaubten Vaters. Ist die Verspottung als „alter Hunne“ und die Zurückweisung der Geschenke schon eine Herausforderung zum Kampf, so bleibt Hildebrand nach den Worten Hadubrands, dass sein Vater im Gegensatz zu dem ihm unbekannten Gegenüber ein Mann von Ehre und Tapferkeit sei, kein friedlicher Weg mehr offen. Nach den Sitten ist er nun gezwungen, um seiner eigenen Ehre willen die Herausforderung des Sohnes zum Kampf anzunehmen – und zwar unter Inkaufnahme seines eigenen Todes oder des Todes seines Sohnes. Welt- und kampferfahren ahnt Hildebrand die Dinge voraus, die folgen werden, und klagt so über sein furchtbares Schicksal: „welaga nu, waltant got“, quad Hiltibrant, „wewurt skihit“ („Wehe, waltender Gott“, sprach Hildebrand, „ein schlimmes Schicksal nimmt seinen Lauf!“). Zwischen zwei Heeren stehen nun Vater und Sohn einander gegenüber; es kommt zum unausweichlichen Kampf. Hier bricht der Text ab. Vermutlich, wie ein späterer altnordischer Text aussagt, endet der Kampf mit dem Tod Hadubrands.

Vermutlicher Schluss

Da der Schluss der Handlung nicht überliefert ist, kann nicht mit letzter Sicherheit gesagt werden, ob das Ende tragisch gestaltet war. Man kann aber davon ausgehen, denn der Text zielt in seiner dramaturgischen Komposition auf die Klimax des Zweikampfes. Durch die psychologische Gestaltung des Wortwechsels zwischen Vater und Sohn, durch Hildebrands Zwiespalt zwischen dem väterlichen Versuch der Zuwendung und Annäherung und der aufrechterhaltenen Wahrung seiner Ehre und selbstverständlichen Position als Krieger spitzt sich die Tragik der Handlung zu. Zeugnis davon gibt das sogenannte „Hildebrands Sterbelied“ in der altnordischen Fornaldarsaga Ásmundar saga kappabana aus dem 13. Jahrhundert. Das Sterbelied ist ein fragmentarisch erhaltenes Lied im eddischen Stil innerhalb des Prosatextes der Saga.[4] In sechs unvollständigen Strophen, besonders in der vierten, beklagt Hildibrand retrospektiv den Kampf mit dem Sohn und dessen tragischen Tod:[5]

„Liggr þar inn svási at hǫfði,
eptirerfingi, er ec eiga gat;
óviliandi aldrs syniaðag.“

Dort liegt mir zu Häupten, der einzige Erbe,
der mein eigen ward; wider Willen
ward ich sein Mörder.

Grundtext: Gustav Neckel, Hans Kuhn 1983. Übertragung: Felix Genzmer, 1985.

Im deutschen Jüngeren Hildebrandslied siegt ebenfalls der Vater, aber die beiden erkennen einander rechtzeitig. Dieser Text ist deutlich hochmittelalterlich geprägt, weil der Zweikampf vom Wesen her die Form des ritterlichen Turniers zeigt, also die Ausprägung eines quasi sportlichen Wettkampfes hat. Eine spätere Variante (in Deutschland erst in Handschriften zwischen dem 15. und 17. Jahrhundert erhalten) endet allerdings versöhnlich: Mitten im Kampf wenden sich die Streitenden voneinander ab, der Sohn erkennt den Vater, und sie schließen sich in die Arme; die Begegnung endet mit einem Kuss des Vaters auf die Stirn des Sohnes und den Worten: „Gott sei Dank, wir sind beide gesund.“ Schon im 13. Jahrhundert ist diese versöhnliche Variante aus Deutschland nach Skandinavien gelangt und dort in die Thidrekssaga eingeflossen (älteste erhaltene Handschrift schon um 1280), eine thematische Übertragung deutscher Sagen aus dem Kreis um Dietrich von Bern. In der Thidrekssaga wird der Ausgang des Kampfes so geschildert, dass Vater und Sohn, nachdem sie einander erkannt haben, zusammen mit Freuden zur Mutter und Ehefrau zurückkehren. Generell ist im Vergleich mit den späteren Interpolationen die Tragik der Geschichte größer und dem germanisch-zeitgenössischen Empfinden entsprechender, wenn die Erkenntnis des verwandtschaftlichen Verhältnisses beim Sohn ausbleibt und der Vater den Sohn tötet, denn damit löscht er seine Familie bzw. Geschlechtslinie aus.

„In drei außergermanischen Sagen liegt diese individuell geprägte Fabel vor: der irischen von Cuchullin und Conlaoch, der russischen von Ilja und Sbuta Sokolniek, der persischen von Rostam und Sohrab.“

Andreas Heusler: „Hildebrand“ in RGA 1, Band 2

Aufgrund der inhaltlichen Ähnlichkeit wird diese Tragödie oft mit der Geschichte von Rostam und Sohrab aus dem Schāhnāme, dem im 10. Jahrhundert entstandenen iranischen Nationalepos von Firdausi, verglichen. In diesem 50.000 Verse langen Epos wird unter anderem auch von dem Kampf zwischen dem Vater Rostam und seinem Sohn Sohrab berichtet. Rostam, der seine Ehefrau bereits vor der Geburt seines Sohnes verlassen hat, hinterließ ihr seinen Armreif, den sie der Tochter oder dem Sohn Rostams als Erkennungszeichen geben möge. Sohrab, der sich gerade volljährig geworden auf die Suche nach seinem Vater begibt, wird in einen Zweikampf mit seinem Vater mit tödlichem Ausgang verwickelt. An dem Sterbenden entdeckt Rostam den Armreif und erkennt, dass er seinen eigenen Sohn erschlagen hat. Friedrich Rückert hat diesen Teil aus dem Schāhnāme, der einen der Höhepunkte des Epos darstellt, mit seiner 1838 erschienenen Nachdichtung Rostem und Suhrab im deutschen Sprachraum bekannt gemacht.[6] Während bei Firdausi der Vater seinen Sohn erdolcht, erschlägt im Oidipus Tyrannos des Sophokles der Sohn seinen Vater Laios. Die verschiedenen Parallelen können einerseits durch eine indogermanische Ursage erklärt werden, die den dichterischen Gestaltungen jeweils zugrunde läge; zum anderen kann in manchen Fällen auch eine direkte Beeinflussung angenommen werden.[7] So ging der Germanist Hermann Schneider bei dem Motiv von einer Wandersage oder Weltnovelle aus. Schließlich ist eine Erklärung durch universell wirksame Archetypen möglich, die auf psychische und soziale Grundstrukturen zurückgeführt werden können, wie sie u. a. von Carl Gustav Jung, Karl Kerényi, Claude Lévi-Strauss und Kurt Hübner untersucht wurden. Die Brüder Grimm nennen den Text in ihrer Anmerkung zu dem Märchen Der treue Johannes sowie zu dem Schwank Der alte Hildebrand im Hinblick auf die mögliche Untreue der daheim gebliebenen Ehefrau.

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