Geschichte des Antisemitismus seit 1945

aus WikiDoku

Antisemitismus, eine seit der Aufklärung entstandene Judenfeindlichkeit, verlor seit 1945 mit dem Ende des NS-Staates weithin seine Funktion als politische Ideologie, besteht aber in vielfältiger Form bei Bevölkerungsteilen jeder sozialen Schicht, religiösen und politischen Orientierung fort.

Der Antisemitismus bis 1945 hatte zum Holocaust geführt. Danach traten politische Organisationen mit offen judenfeindlichen Zielen und traditionelle Stereotype des christlichen Antijudaismus zurück. Begünstigt durch mangelnde Aufarbeitung der Zeit des Nationalsozialismus und Geschichtsrevisionismus gibt es jedoch in Deutschland und vielen anderen Staaten weiterhin erhebliche antisemitische Vorurteile und Angriffe auf Juden. Diese nahmen nach den Terroranschlägen am 11. September 2001 vielerorts zu.

Im Post-Holocaust-Antisemitismus verbreitet sind Schuldabwehr und Schuldprojektion auf Juden, Täter-Opfer-Umkehr, Kodierungen, die Juden nicht nennen, aber meinen oder leicht auf Juden zu beziehen sind. Als aktuell vorherrschende Form gilt ein oft als Antizionismus getarnter Israel-bezogener Antisemitismus, der das Existenzrecht Israels ablehnt und diesen Staat für alle möglichen politischen Übel oder alle Juden für dessen Politik haftbar macht.

Öffentliche antisemitische Hetze ist in Deutschland seit 1994 als Volksverhetzung, in Österreich als Verhetzung oder NS-Wiederbetätigung, in der Schweiz nach der Rassismus-Strafnorm strafbar.

Ostblock

Sowjetunion

Die Sowjetunion (SU) unter Josef Stalin hatte die Juden des Landes seit dem Überfall Deutschlands im Juni 1941 anders als andere Minderheiten als loyale Sowjetpatrioten betrachtet und 1942 ein Jüdisches Antifaschistisches Komitee (JAK) erlaubt, das internationale Hilfen für die Rote Armee im Kampf gegen die Wehrmacht einwarb. Zugleich blendete das Regime den Antisemitismus des NS-Regimes als eigenes Phänomen aus, verschwieg ab 1941 weitgehend den Holocaust, strich ab 1944 das Wort „Juden“ aus Berichten über NS-Verbrechen und betonte stattdessen die Verbrechen des Faschismus an „friedlichen Sowjetbürgern“. Dies folgte aus der staatlichen Faschismustheorie und richtete sich gegen das jüdische Nationalbewusstsein, das durch die akute Vernichtungsgefahr auch unter loyalen sowjetischen Juden geweckt und gestärkt worden war. Nach Kriegsende begann das Regime die sowjetischen Juden ebenso wie andere Minderheiten als illoyal zu verdächtigen und ihre Texte zu zensieren. Zugleich ließ es antisemitische Pogrome im eigenen Herrschaftsbereich zu (so ab 1945 in Kiew und der Ukraine) und stellte lokale Berichte darüber als antisowjetische Propaganda von „Zionisten“ dar. Antisemitismus in nichtjüdischen Bevölkerungsteilen und deren Kollaboration mit den NS-Verbrechern wurden ignoriert oder nur als Spätfolge der deutschen Besetzung erklärt. Dabei war der Sowjetunion auch vor dem Krieg die Überwindung des Antisemitismus nicht gelungen, die man ideologisch versprochen hatte.[1]

Weil die Sowjetunion einen Sozialismus in Israel und regionalpolitische Vorteile erwartete, unterstützte sie Israels Staatsgründung (Mai 1948). Diese beflügelte die sowjetischen Juden. Weil deren proisraelische Haltung die Nationalitätenpolitik der Sowjetunion aus Sicht des Regimes gefährdete, änderte es seinen Kurs und ging zur Ausschaltung jüdischer Aktivisten in der Sowjetunion und jüdischer Parteikader in anderen Ostblockstaaten über.[2]

Schon 1946 hatte die Sowjetunion eine repressive Kulturpolitik gegen „bourgeois-dekadente“ Tendenzen in Kultur und Wissenschaft eingeleitet, um Vertreter der Intelligenz, die im Krieg Freiräume erhalten hatten, wieder der staatlichen Kontrolle zu unterwerfen. Ab Herbst 1948 griff die sowjetische Presse angeblich staatsfeindliche Tätigkeiten „wurzelloser Kosmopoliten“ an. Die Kampagne verwendete gezielt antisemitische Stereotype vom „heimatlosen Juden“ und der „jüdischen Weltverschwörung“. Im Januar 1949 beschloss das ZK eine landesweite Aktion gegen „antipatriotische“ Kritiker, entließ und inhaftierte hunderte Intellektuelle, meist Juden. Sie wurden schon wegen ihrer Herkunft mit „Kosmopoliten“ und „Zionisten“ gleichgesetzt, wobei diese Vorwürfe auch Nichtjuden treffen konnten. Die Kampagne sollte jede jüdische Autonomie im Land unterdrücken, der Bevölkerungsmehrheit einen Sündenbock für katastrophale ökonomische Zustände bieten und die Parteidiktatur festigen.[3]

Hinzu kamen Geheimprozesse gegen führende JAK-Mitglieder. Auch ihnen wurde eine angeblich jüdische, „kosmopolitische“, vagabundierende Lebensweise, eine „stammesübliche“ Solidarität und eine Verschwörung mit der US-Regierung und Israel gegen Stalins Regime vorgeworfen. Dies führte zur Nacht der ermordeten Dichter im Jahre 1952, in der zahlreiche Juden hingerichtet wurden, darunter bekannte jiddische Schriftsteller und Intellektuelle.

Ab 1951 in einem Machtkampf im Politbüro erfanden Stalin und seine Anhänger eine großangelegte „Ärzteverschwörung“ gegen das Sowjetregime. Bis zu Stalins Tod 1953 verhafteten und folterten sie viele vor allem jüdische Angeklagte, ließen einige ermorden oder hinrichten. Genaue Opferzahlen sind unbekannt. Das Vorgehen verstärkte den Antisemitismus in der Bevölkerung und die Pogromgefahr erheblich[4] und beeinflusste auch die übrigen Ostblockstaaten.

Unter Nikita Sergejewitsch Chruschtschow ging der öffentlich-staatliche Antisemitismus im Ostblock außer in Polen zurück. Nach Israels Sechstagekrieg 1967 wurde er als Antizionismus wiederbelebt. Unter Alexei Nikolajewitsch Kossygin entstanden antisemitische Karikaturen, Schriften und Filme mit deutlichen Parallelen zum Stürmer. „Zionisten“ (Juden) wurden wieder als Bedrohung für die Welt, das „Weltjudentum“ oder der „internationale Zionismus“ als Verbündete des US-Imperialismus dargestellt.[5] Juden wurde zudem vorgeworfen, sie hätten nach der Herrschaft über den letzten Zaren gestrebt und würden hinter den antisowjetischen Unabhängigkeitsbestrebungen Polens und dem Prager Frühling stecken.

Ab 1985 leitete der neue KPdSU-Vorsitzende Michail Sergejewitsch Gorbatschow eine andere Politik ein und erlaubte ab 1988 vielen sowjetischen Juden die Ausreise nach Israel. Bis 1989 verließen rund 16.000 Juden die Lettische Sozialistische Sowjetrepublik.[6]

Tschechoslowakei

Die Tschechoslowakei 1948 ermöglichte Israel mit auf sowjetischen Wunsch gelieferten Waffen den Sieg im Palästinakrieg. Doch 1951 klagte Stalin vierzehn tschechoslowakische KP-Mitglieder um Rudolf Slánský, darunter zwölf Juden, als angebliche zionistische Agenten an. Für die Verhöre wurden laut Zeugen auch antisemitische Verehrer Adolf Hitlers eingesetzt. Die tschechische Presse betonte das Judesein der Angeklagten und behauptete, Slánský habe in den USA mit westlichen Juden wie Henry Morgenthau und Georges Mandel heimlich einen jüdischen Spionagering in den Ostblockregimes bilden wollen.[7]

Polen

Nach dem Krieg kehrten polnische Juden, die den Holocaust durch Flucht in die Sowjetunion überlebt hatten, in ihre Herkunftsorte in Polen zurück und wollten ihre Häuser wieder beziehen. Dabei kam es zu Pogromen wie dem Pogrom von Krakau (1945) oder dem Pogrom von Kielce (1946). Bis zu 1.500 Juden wurden dabei getötet.[8]

Als Hintergründe der Übergriffe sowie der judenfeindlichen Einstellungen nannte der Historiker Feliks Tych eine Demoralisierung und Abstumpfung der polnischen Bevölkerung, für die es während der deutschen Okkupation zur Gewohnheit geworden sei, dass man Juden misshandeln oder töten konnte, da das besetzte Polen als Hauptarena für die Vernichtung der Juden in Europa ausgewählt worden sei. Außerdem habe die Bevölkerung Nutzen aus den Deportationen, der Ghettoisierung sowie den Morden gezogen. Die Rückkehr jüdischer Überlebender habe bei den Profiteuren die Furcht geweckt, das Gewonnene wieder zu verlieren. Auch in der katholischen Kirche Polens waren weiterhin antijüdische Einstellungen verbreitet. Der Primas von Polen, Kardinal August Hlond, machte die Juden für den Pogrom in Kielce verantwortlich.[9]

Unter den überzeugten Kommunisten, die der polnischen KP 1944 zur Etablierung eines stalinistischen Regimes in Polen verhalfen, waren auch Juden. Mit antisemitischer Propaganda versuchten ihre Gegner in der KP sie ab 1949 zu entmachten: Juden seien an allen Verbrechen des Stalinismus in Polen schuld, nur ihre Ausschaltung in der KP könne dem entgegenwirken. 1953 beschuldigte ein KP-Blatt die „Zionisten“, sie hätten mit Hitler beim Holocaust zusammengearbeitet und hielten das auf Weisung des US-Außenministeriums geheim. Israels Ministerpräsident David Ben-Gurion führe in Israel mit Billigung der USA einen Ausrottungsfeldzug gegen die Araber und gleiche darin Hitler. 1957 kam es in Szczecin, Wałbrzych, Poznań, Dzierżoniów und anderen Städten zu gewalttätigen Übergriffen gegen Juden und zur Schändung jüdischer Friedhöfe. Bald überwachte die KP alle jüdischen Staatsbeamten, bis 1965 alle jüdischen Bürger in Polen. Nach dem Sechstagekrieg im Nahen Osten nahm der Antizionismus weiter zu. Eine „Abteilung für jüdische Angelegenheiten“ baute einen großen Polizeiapparat auf, der alle Polen mit jüdischen Vorfahren registrierte, bis zurück in die dritte Generation. Im Zusammenhang der März-Unruhen 1968 in Polen kam es zu antisemitischen Übergriffen und polnische Juden wurden massenhaft entlassen. Fast alle verließen daraufhin das Land.[10]

1992 glaubten 25 Prozent der Polen, dass zwischen einer Dreiviertelmillion und 3,4 Millionen Juden in Polen lebten. 10 Prozent waren der Ansicht, es gäbe bis zu 7,2 Millionen Juden im Land, und 25 Prozent waren der Ansicht, Juden hätten zu große Macht in Politik, Wirtschaft und Kultur. In Wirklichkeit lebten 2005 in Polen rund 5000 Juden und in der Volkszählung 2011 klassifizierten sich nur 7353 Polen als Juden, das waren 0,019 Prozent der Bevölkerung. 1997 wurde die Synagoge in Warschau in Brand gesetzt. Antisemitismus wird in der Rhetorik von Nationalisten innerhalb wie außerhalb der Kirche, die Polen als homogenen Staat darzustellen versuchen, weiter verwendet. Verschiedene Medien wie die viertgrößte Zeitung, die katholisch-nationalistische Nasz Dziennik, oder der viertgrößte Radiosender Radio Maryja verbreiten weiterhin Antisemitismus.[11]

Öffentliche Aufmerksamkeit erregte am Internationaler Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust 2019 ein antisemitischer Aufmarsch vor dem ehemaligen KZ Auschwitz-Birkenau.[12]

Ungarn

Eine ähnliche Situation wie in Polen gab es auch in Ungarn, sie schwächte sich hier im Laufe der Zeit verglichen mit anderen Ostblockstaaten aber ab. Bis Anfang der 1950er mussten aus einer Vielzahl von Gründen etwa 150.000 osteuropäische Juden aus ihrer Heimat fliehen und lebten in den DP-Lagern in Westdeutschland, wo die meisten von ihnen auf eine Einreisemöglichkeit nach Israel warteten. Insgesamt brachte die Flucht vor dem Antisemitismus in Osteuropa in den Jahren 1950–1951 425.000 Juden nach Israel.[13]

Bulgarien, Rumänien, Jugoslawien

Bis 1956 wanderten 90 % der bulgarischen Juden aus. Obwohl Rumänien als einziger Ostblockstaat normale Beziehungen zu Israel unterhielt, verließen bis 1975 300.000 Juden ihre rumänische Heimat (siehe auch Geschichte Rumäniens).

In Jugoslawien war die Entwicklung besonders heftig.[5]

Deutschland

SBZ und DDR

Die sowjetische Staatsideologie ordnete den Rassenantisemitismus des NS-Regimes als bloße Ablenkungsstrategie des Faschismus zum Unterdrücken der Arbeiterklasse ein. Vom NS-Regime verfolgte Juden wurden daher in der SBZ und der späteren DDR als bloße Opfer des Faschismus eingestuft und moralisch wie materiell schlechter gestellt als die ebenfalls verfolgten Kommunisten, die als politische „Kämpfer gegen den Faschismus“ privilegiert wurden.[14] In der SBZ erließ nur das Land Thüringen ein Wiedergutmachungsgesetz, das Juden als rassistisch Verfolgte einschloss. Die SED führte das Gesetz ab 1948 nicht mehr durch und hob es 1952 ganz auf.[15]

Die DDR gab nur den im Land lebenden ehemals verfolgten Juden, nicht emigrierten Juden ihr Eigentum zurück und lehnte Entschädigungsforderungen Israels stets ab.[16]

Ab Oktober 1949 beteiligte sich die DDR an der sowjetischen Kampagne gegen „Kosmopolitismus“, „Kosmopoliten“ und „Zionisten“, etwa mit einer Artikelserie im SED-Organ Einheit.[17] Ohne Juden zu nennen, übernahm die DDR-Propaganda nationalistische und antisemitische Stereotype einer „volksfremden“, „wurzellosen“ „westlichen Dekadenz“ und der „Wallstreet“ für den internationalen Kapitalismus. Zwar vermied die DDR-Führung Schauprozesse, verfolgte aber aus dem Westen in die DDR emigrierte Bürger, besonders Juden.[14]

1950 schloss die SED den Nichtjuden Paul Merker aus, der sich für eine Entschädigung jüdischer NS-Verfolgter, Rückerstattung geraubten jüdischen Eigentums und die Staatsgründung Israels eingesetzt hatte. 1952 wurde er als angeblicher „zionistischer Agent“ im Dienst „jüdischer Monopolkapitalisten“ zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt und inhaftiert, bis er 1956 freigesprochen wurde. Ab 1952 überwachte das Ministerium für Staatssicherheit die jüdischen Gemeinden in der DDR, und die Volkspolizei verhörte ihre Vertreter. Infolge staatlichen Drucks löste sich 1953 die VVN, die als Interessenvertretung von Juden galt, in der DDR auf. Darum flohen bis zum Herbst 1953 rund 1000 von 4000 Juden aus der DDR, darunter viele Gemeindevorstände. Die übrigen jüdischen Gemeinden wurden staatsloyalen Vorständen statt Rabbinern und dem Staatssekretariat für Kirchenfragen unterstellt. Die eingesetzten Vorstände dienten der DDR-Propaganda, dem Ausland die Achtung der Religionsfreiheit in der DDR zu zeigen und einen neuen Faschismus in Westdeutschland anzuklagen. Die überwachten und gegängelten Gemeinden durften sich nicht sozial und kulturell betätigen, so dass sie bis zum Ende der DDR weitgehend verkümmerten.[18]

Im Suezkrieg von 1956 ergriff die DDR-Führung Partei gegen Israel. Nach Israels Sieg im Sechstagekrieg 1967 verschärfte die DDR ihre anti-israelische Propaganda erheblich, nannte Israel die „Speerspitze des Imperialismus“ und setzte sein Vorgehen mit der Judenvernichtung des NS-Regimes gleich; so erneut im Libanonkrieg 1982. Die Vertreter des jüdischen Gemeindeverbands in der DDR kritisierten diese Propaganda und die antisemitischen Töne darin öfter. 1967 unterzeichneten nur jüdische DDR-Bürger, die keiner Gemeinde angehörten, eine vom Politbüro der SED beschlossene Erklärung gegen Israel. Im Jom-Kippur-Krieg von 1973 äußerte der Verbandsvorsitzende auf staatlichen Druck hin zwar Kritik an den „Machthabern Israels“, betonte aber zugleich die Verbundenheit mit Israels Juden. 1975 protestierte der Verbandsvertreter Peter Kirchner gegen die DDR-Presseberichte, die Zionismus mit Rassismus gleichsetzten und die entsprechende UN-Resolution 3379 begrüßten. Er verwies darauf, dass Ausdrücke wie „internationale jüdische Bourgeosie“ dem antisemitischen Stereotyp vom „Finanzjudentum“ stark ähnelten.[19]

In ihren Gedenkritualen verschwieg die DDR meist die jüdische Identität von polnischen, sowjetischen und anderen Juden, die das NS-Regime ermordet hatte. Um ihr Ansehen im westlichen Ausland zu stärken, änderte die DDR-Führung ab 1985 diesen Kurs. Zum 40. Jahrestag des Kriegsendes kündigte sie eine Entschädigung jüdischer NS-Verfolgter an. Fortan wurden Geschichte und Kultur jüdischer Gemeinden in das „nationale Kulturerbe“ der DDR einbezogen, das Interesse jüdischer Studenten in der DDR an diesen Themen und ihr Anschluss an die jüdischen Gemeinden begrüßt. DDR-Historiker erforschten nun verstärkt auch die Judenverfolgung.[20]

Gleichwohl kam es in der DDR wie in Westdeutschland immer wieder zu antisemitischen Taten, etwa Friedhofsschändungen, Beschmieren von Gedenkorten, Drohbriefen an und körperlichen Angriffen auf jüdische Bürger. Letztere wurden staatlich nicht registriert und nicht bekannt gemacht. Doch DDR-Akten eines einzigen Jahres (1960) dokumentierten bereits 595 Fälle antisemitischer Hetze und fast 3000 „faschistische“ Schmierereien. Der Historiker Harry Waibel fand in DDR-Akten insgesamt 900 explizit antisemitische Straftaten, davon 145 Friedhofsschändungen, und 7700 rassistische oder neonazistische Propaganda- und Gewalttaten. Die tatsächliche Gesamtzahl wird als weit höher eingeschätzt. Denn die DDR-Behörden verharmlosten viele dieser Straftaten als „Rowdytum“, um das Gesamtbild der antifaschistischen DDR nicht zu gefährden.[21]

Westzonen

Nach dem Zweiten Weltkrieg 1945 beendeten die Alliierten die nationalsozialistische Propaganda, bestraften und ächteten ihre Fortsetzung. Doch der Antisemitismus unter den Deutschen bestand fort. Sie reagierten auf die alliierte Reeducation und Konfrontation mit den NS-Verbrechen fast überall mit Schutzbehauptungen wie „Davon haben wir nichts gewusst“ oder Abwenden, Aggression, Schweigen und Trotz.[22] In den ersten Nachkriegsjahren dominierten Alltagssorgen; NS-Zeit und eigene Beteiligung an NS-Verbrechen wurden verdrängt.

Besonders die rund 250.000 jüdischen Displaced Persons waren massiven Vorurteilen und Angriffen ausgesetzt. Diese Holocaustüberlebenden mussten vor neuen Pogromen aus Osteuropa fliehen und wurden in den Westzonen teils bis 1954 ohne Arbeitserlaubnis in eigenen Lagern und beschlagnahmten Wohnungen interniert. Die ortsansässige Bevölkerung griff sie mit häufigen Eingaben an die Behörden als Schwarzhändler, Kriminelle und „Gefahr für die Deutschen“ an. Entgegen den Statistiken der Alliierten unterstellte man ihnen, den Schwarzmarkt zu beherrschen, sich mit Preiswucher und unproduktiver Arbeit zu bereichern und Wohnraum zu missbrauchen. Die dabei wirksamen Klischees vom „Wucherjuden“ hatten mit der realen Lage verarmter und vertriebener Ostjuden nichts gemein. Die Vorwürfe wiesen ihnen die Schuld an ihrer Verfolgung und Lage zu. Diese Täter-Opfer-Umkehr diente zur Entlastung, um sich nicht mit dem eigenen Verhalten in der NS-Zeit auseinanderzusetzen. Die deutsche Polizei reagierte mit Razzien in den Lagern und provozierte so Proteste der DPs. Als ein Polizist 1946 in Stuttgart einen Auschwitzüberlebenden erschoss, verbot die US-Militärregierung der deutschen Polizei den Zutritt zu jüdischen DP-Lagern. Nach der Lockerung der alliierten Pressezensur bezeichneten Zeitungsartikel die DPs als „Deutschlands Parasiten“ (1. Juni 1947); die Süddeutsche Zeitung druckte einen antisemitischen Leserbrief ab (9. August 1949). Dagegen demonstrierten am Folgetag rund 1000 jüdische DPs vor der Chefredaktion und forderten den Entzug der Drucklizenz. Die deutsche Polizei wollte sie auseinandertreiben, provozierte damit einen Tumult, schoss in die Menge und verletzte drei Teilnehmer. Erst die amerikanische Militärpolizei beendete den Tumult.[23] Im Lager Föhrenwald verhinderten DPs 1952 mit einer Fahrzeugblockade eine behördliche Razzia. Die Beamten reagierten mit Rufen wie „Die Krematorien gibt es noch“ oder „Die Gaskammern warten auf euch“ und gaben einen Warnschuss ab.[24]

Ab 1947 wurden in den Westzonen wieder häufig jüdische Friedhöfe mit antisemitischen Parolen und Zeichen geschändet. Westdeutsche Landesregierungen konnten sich auf kein Entschädigungsgesetz für Opfer der „Arisierung“ einigen.

Bundesrepublik bis 1990

Der rassische Antisemitismus spielte in der Bundesrepublik keine soziale Rolle mehr, da er durch die Verbrechen der Nationalsozialisten desavouiert war. Eine entschiedene Ablehnung des Antisemitismus wurde zur sozial geteilten Norm: Judenfeindliche Äußerungen und Haltungen wurden strafrechtlich verboten und waren in der Gesellschaft strikt verpönt, sodass sie nur an deren politisch einflusslosem Rand, privat und heimlich Antisemitismus stattfinden konnten.[25] Bereits kurz vor der Bundestagswahl 1949 betonte der US-amerikanische Hochkommissar John Jay McCloy: „Das Leben und das Wohlergehen der Juden in Deutschland wird ein Prüfstein der demokratischen Entwicklung in Deutschland sein.“[26] Bundeskanzler Konrad Adenauer erwähnte die Juden in seiner ersten Regierungserklärung jedoch nicht. Erst später erklärte er, er wolle die Bekämpfung des Antisemitismus, die Bestrafung nationalsozialistischer Verbrechen, eine deutsche Wiedergutmachungspolitik und den Aufbau jüdischer Gemeinden in der Bundesrepublik fördern. Ab 1951 verhandelte die Bundesregierung direkt mit Israel und schloss 1952 das Luxemburger Abkommen. 1956 beschloss der Bundestag rückwirkend zum 1. Oktober 1953 das Bundesentschädigungsgesetz.

Weil rechtsextreme Zeitschriften erlaubt blieben, wurden 1951 Nation Europa und die Deutsche Soldatenzeitung gegründet, die Antisemitismus und Geschichtsrevisionismus verbreiteten. Der Prozess gegen Veit Harlan, den Regisseur des NS-Propagandafilms Jud Süß von 1940, deckte Kontinuitäten zur NS-Zeit in der westdeutschen Polizei, Justiz, Filmindustrie und Öffentlichkeit auf.[27] Die Jüdin Karina Niehoff, die massive antisemitische Eingriffe Harlans in das Drehbuch des Films bezeugte, wurde im Gerichtssaal als „Judensau“ beschimpft und brauchte Polizeischutz. Richter Walter Tyrolf, ein früheres NSDAP-Mitglied, bestritt den Zusammenhang zwischen antisemitischer Filmpropaganda und staatlicher Judenverfolgung, behauptete einen „Nötigungsnotstand“ Harlans und sprach ihn von Verbrechen gegen die Menschlichkeit frei. Harlan erlebte 1951 ein Comeback als Filmregisseur. Der Hamburger Senatsdirektor Erich Lüth rief zum Boykott neuer Harlan-Filme auf und warb mit seiner Aktion „Friede mit Israel“ für Aufarbeitung der NS-Zeit, Anerkennung Israels und Wiedergutmachung. Gegen Kinopremieren der Harlan-Filme und gerichtliche Boykottverbote protestierten bis 1954 landesweit Studenten, Akademiker und Opferverbände. In Salzburg, Freiburg und Göttingen verprügelten Polizisten als „jüdisch“ angesehene Studenten und nahmen sie fest, während Zuschauer sie mit antisemitischen Rufen anfeuerten, die Studenten ihrerseits bedrohten und schlugen. 1958 erlaubte das Bundesverfassungsgericht mit dem Lüth-Urteil den Boykottaufruf und stärkte so die Meinungsfreiheit auch im Zivilrecht.[28]

Die 1948 entstandene Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit befasste sich für eine umfassende Erziehung zur Demokratie gezielt mit Antisemitismus. Nur wenige überlebende Juden beteiligten sich. Die jährliche Woche der Brüderlichkeit (ab 1952) blieb ein kaum beachtetes philosemitisches Ritual.[29] 1952 verbot das Bundesverfassungsgericht die rechtsextreme Sozialistische Reichspartei (SRP) und verdrängte rechtsextreme Parteien damit zehn Jahre lang aus Landtagen und Bundestag. Viele Westdeutsche erwarteten nun einen Schlussstrich unter die Vergangenheitsbewältigung. 1959/60[30] kam es jedoch zu mehreren antisemitischen Skandalen und einer Hakenkreuz-Schmierwelle.[31] Bücher wie das „Tagebuch der Anne Frank“, Filme wie „Nacht und Nebel“ (1955/56), der Eichmann-Prozess (1961) und die Auschwitzprozesse (ab 1963) verstärkten dagegen die öffentliche Auseinandersetzung mit der NS-Zeit und Anteilnahme für jüdische Holocaustopfer.[27] Nach der Ausstellung „Ungesühnte Nazijustiz“ (1959/60) und ersten Strafanzeigen gegen ehemalige NS-Juristen gründeten die Bundesländer eine Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen.

1967 konstatierten die Psychoanalytiker Margarete und Alexander Mitscherlich jedoch, dass die meisten Deutschen ihre Verstrickung in den Nationalsozialismus kaum verarbeitet hatten und die NS-Verbrechen weiter tabuisierten. Daher könnten emotionale Bindungen an autoritäre und antisemitische Denkmuster fortwirken: „Vorerst fehlt das Sensorium dafür, dass man sich zu bemühen hätte – vom Kindergarten bis zur Hochschule –, die Katastrophen der Vergangenheit in unseren Erfahrungsschatz einzubeziehen, und zwar nicht nur als Warnung, sondern als die spezifisch an unsere nationale Gesellschaft ergehende Herausforderung, mit ihren darin offenbar gewordenen brutal-aggressiven Tendenzen fertig zu werden.“[32]

Die 1964 gegründete Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) verpasste den Einzug in den Bundestag bei der Bundestagswahl 1969 nur knapp. Ihre Anhänger propagierten die „Auschwitzlüge“ und behaupteten, der Holocaust sei eine Erfindung „der Juden“, um Deutschland als Tätervolk zu brandmarken und politisch-finanzielle Reparationen zu „erpressen“. Diese Holocaustleugnung wurde im deutschsprachigen Rechtsextremismus üblich.[33]

Infolge der Ostpolitik der sozialliberalen Bundesregierung verlor die NPD große Wähleranteile. Die Neonazigruppen von Michael Kühnen und Manfred Roeder, Aktionsfront Nationaler Sozialisten/Nationale Aktivisten, Deutsche Aktionsgruppen, Volkssozialistische Bewegung Deutschlands und Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei, waren radikale Holocaustleugner, Antisemiten und Rassisten. Ihre Anschläge richteten sich jedoch gegen Asylbewerber, Ausländer und deren Unterstützer.[34]

Der 1979 ausgestrahlte Fernsehfilm „Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss“ verstärkte die kollektive Ächtung des Antisemitismus. Doch auch bürgerliche Politiker äußerten sich weiterhin öfter judenfeindlich. So sagte Hermann Fellner (CSU) zur 1986 geforderten Entschädigung von Zwangsarbeitern der NS-Zeit, es werde „der Eindruck erweckt, daß die Juden sich schnell zu Wort melden, wenn irgendwo in deutschen Kassen Geld klimpert“. {{#invoke:Vorlage:Anker|f |errCat=Wikipedia:Vorlagenfehler/Vorlage:Anker |errHide=1}}Der Korschenbroicher Bürgermeister Degenhardt Wilderich Graf von Spee-Mirbach (CDU) erklärte 1986 in einer Ratssitzung, man müsse zur Sanierung des städtischen Haushalts „ein paar reiche Juden erschlagen“.[35][36] Heftige Proteste veranlassten von Spee zum Rücktritt und Fellner zu einer Entschuldigung. Demnach war die Sensibilität gegenüber Verstößen gegen die gesellschaftliche Ablehnung des Antisemitismus seit 1960 gewachsen.[37]

Antisemitismus wurde in der Bitburg-Kontroverse und der Fassbinder-Affäre (beide 1985), im Historikerstreit (1987) und im Fall Jenninger (1988) sichtbar, etwa indem lebende Juden als „rachsüchtig“, „auf ihren finanziellen Vorteil bedacht“ oder als Störenfriede im deutsch-amerikanischen Verhältnis angegriffen wurden.[38] Ernst Noltes geschichtsrevisionistische Thesen wurden im Historikerstreit zwar entkräftet, blieben aber verbreitet: Er hatte deutsche Konzentrationslager 1986 als Reaktion auf Josef Stalins massenvernichtende Gulags relativiert und den Rasse-Antisemitismus aus dem Antikommunismus der Nationalsozialisten erklärt.[39]

Verbreitung

Ab 1945 erhoben alliierte Behörden, ab 1949 auch bundesdeutsche Institute und Sozialforscher empirische Daten zu Ausmaß, Arten und Trägern antisemitischer Vorurteile. Nach Umfragen in der US-Besatzungszone sahen sich 1945 23 %, 1946 21 %, 1948 noch 19 % der Befragten als Antisemiten. Bis zu 40 % weitere teilten antisemitische Einstellungen.[40]

Nach Umfragen vom Institut für Demoskopie Allensbach stieg der Anteil „bekennender“ Antisemiten im Kontext der Debatte um Reparationen an Israel 1949 auf 23 %, 1952 auf 34 %. Die Frage „Würden Sie sagen, es ist [wäre] für Deutschland besser, keine Juden im Land zu haben?“ beantworteten die befragten Deutschen anteilig in Prozent wie folgt:[41]

Jahr Ja Nein Egal
1952 37 19 44
1956 26 24 50
1958 22 38 40
1963 18 40 42
1965 19 34 47
1983 9 43 48
1987 13 67 20

Demnach sanken antisemitische Haltungen kontinuierlich, stiegen zeitweise aber wieder an. Nur 1987 wurde die Frage großteilig mit „Nein“ beantwortet. Viele weitere Umfragen bestätigten einen stabilen Anteil von 14 bis 30 % eindeutigen Antisemiten sowie erhebliche latente oder diffuse antisemitische Vorurteile unter den übrigen Bundesdeutschen. Dieser Anteil lag laut einer Studie von Alphons Silbermann (1974) bei 50 %. In einer Studie von Badi Panahi (1977/78) stimmten 14 % der Aussage zu, „dass die Juden einen schädlichen Einfluss auf die christlich-abendländische Kultur ausüben“. 37 % stimmten der Aussage zu: „Die Juden sind vor allem darauf aus, alles, was mit Geld zu tun hat, zu kontrollieren und dadurch eine Macht auszuüben“. Allensbach- und TNS-Emnid-Umfragen von 1986, 1987 und 1989 bestätigten trotz verschiedener Methoden und Frage-Items den Anteil von 15 % eindeutigen und 30–40 % latenten oder potentiellen Antisemiten quer durch alle Bevölkerungsschichten. Bei insgesamt sinkender Tendenz blieb dieses Potential bis 1990 bestehen und abrufbar. Die relative Abnahme wird vor allem auf Bildung und demokratische Erziehung der jüngeren Generation zurückgeführt.[42]

Seit 1990

Gesellschaftsmitte

Antisemitismus zeigt sich seit 1990 auch in der Mitte der deutschen Gesellschaft. Vertreter der CDU/CSU nahmen die deutsche Wiedervereinigung zum Anlass für Forderungen, mit der NS-Vergangenheit abzuschließen und die deutsche Geschichte neu zu interpretieren. So sagte der konservative Bundespräsidentschaftskandidat Steffen Heitmann 1993: Er glaube nicht, dass aus dem Holocaust „eine Sonderrolle Deutschlands abzuleiten ist bis ans Ende der Geschichte“. Mit der deutschen Einheit sei die Zeit gekommen, „dieses Ereignis einzuordnen“. Auf Kritik von Ignatz Bubis (Zentralrat der Juden in Deutschland) und dem JWC warnte Klaus-Jürgen Hedrich (CDU) die „jüdischen Repräsentanten“, „vor dem Hintergrund des Antisemitismus den Holocaust gegen uns zu instrumentalisieren“. Auf Kritik von Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth, Heitmann verharmlose den Holocaust, reagierte die CDU-Bundestagsfraktion mit Hohngelächter.[43] Infolge starker Proteste zog Heitmann seine Kandidatur zurück. Darin wirkte die bundesdeutsche Ächtung des Antisemitismus weiter.[44]

Antisemitische Reaktionen traten unter anderem in landesweiten Debatten um bloße Bewährungsstrafen für den Holocaustleugner Günter Deckert (1992; 1994), um Daniel Goldhagens Buch „Hitlers willige Vollstrecker“ (1996) und Norman Finkelsteins Buch „Die Holocaust-Industrie“ (2001), während der Wehrmachtsausstellungen (1995–1998, 2001–2004), im Streit um Zwangsarbeiterentschädigungen (bis 2000), besonders seit Martin Walsers Rede zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1998 und seiner Debatte mit Ignatz Bubis dazu auf. Walsers Roman „Tod eines Kritikers“ (2002) wurden antisemitische Tendenzen bescheinigt. Jürgen Möllemanns antisemitisches Wahlkampfflugblatt (2002) und sein Streit mit Michel Friedman, damals im Zentralrat der Juden in Deutschland, sowie die Hohmann-Affäre 2003 zeigten, dass sich das Verhältnis der Mehrheitsgesellschaft zur jüdischen Minderheit verschlechterte. Die Zweite Intifada (ab 2000), die islamistischen Terroranschläge seit 2001, der Irakkrieg 2003 verstärkten die Zustimmung zu antisemitischen Verschwörungstheorien.[45] Die Tarnung illegaler Parteispenden als „jüdische Vermächtnisse“ durch Ministerpräsident Roland Koch und Innenminister Manfred Kanther (beide CDU) in der hessischen Parteispendenaffäre von 1999/2000 sollte Bundesbehörden von Nachprüfung abschrecken und bediente das antisemitische Klischee, Juden seien reiche Hintermänner der Politik.[46]

Finkelsteins These einer „Holocaustindustrie“ bestärkte das im sekundären Antisemitismus gängige Vorurteil, Juden würden die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit aus Gewinnstreben für überhöhte Entschädigungsansprüche missbrauchen.[47] Mit Möllemanns Wahlkampfflugblatt versuchte 2002 erstmals ein Spitzenpolitiker einer etablierten Partei, durch ressentimentgeladene öffentliche Kritik an Juden und an Israel Stimmen aus dem rechten Spektrum zu gewinnen. Dieser Tabubruch löste antisemitische Reaktionen aus. Das in Coburg erscheinende Szenemagazin Kult forderte 2002 öffentlich: „Don’t buy Jewish!“[48] Die Rede des Bundestagsabgeordneten Martin Hohmann, wonach man Juden wegen ihrer angeblichen Führungsrolle in der Oktoberrevolution 1917 und folgenden sowjetischen Verbrechen ebenso wie die Deutschen als Tätervolk bezeichnen könne, legte eine Täter-Opfer-Umkehr nahe.[49]

Diese Vorgänge verschoben laut einigen Antisemitismusforschern allmählich die Grenzen des Sagbaren und verbanden vergangenheits- und gegenwartsbezogenen Antisemitismus zur Schuldabwehr.[50] Für Lars Rensmann begann mit der Goldhagen-Debatte eine Enttabuisierung antisemitischer Ressentiments, die sich in Debatten über Walsers Rede, die Zwangsarbeiterentschädigung und Möllemann fortsetzte. Werner Bergmann geht von einer Abnahme dieser Einstellungen in Westdeutschland seit 1990 aus, stellt aber auch eine höhere Anfälligkeit bei ostdeutschen Jugendlichen fest. Er räumt in einer mit Wilhelm Heitmeyer verfassten Arbeit über den neuen Antisemitismus ein, dass sich die „Grenzen des Sagbaren“ mit der Möllemann-Affäre eventuell bewegt haben und verbrämte antisemitische Sprüche zunehmend geduldet würden.[51] Dabei ging es immer um den heutigen Umgang mit den NS-Verbrechen. Die Verantwortung, die das „Volk der Täter“ (Lea Rosh) dafür zu tragen habe, wird immer wieder als Belastung, nicht als Chance empfunden. Dabei erschienen neue antisemitische Vorwürfe: „Die Juden“ wollten die Schuldgefühle der Deutschen verlängern (Goldhagen-Debatte), sich am Holocaust bereichern (Finkelstein-Debatte) und ihre eigenen „Verbrechen an den Palästinensern“ tabuisieren (Möllemann-Debatte). Politiker wie Möllemann und Hohmann bedienten Wünsche nach einer „Entlastung“ von früherer Schuld und heutiger Verantwortung und normalisierten rechtsradikales Gedankengut für Wählerstimmen. Wurde früher gefordert, die Debatte über deutsche Schuld zu beenden, hieß es nun, eine Debatte über Israels vermeintliche Schuld müsse „wieder möglich“ sein. Dabei wurde stets die Situation der hier lebenden jüdischen Minderheit ausgeblendet. Deutsche Juden erlebten in jedem öffentlichen Streit vermehrte Anfeindung und Bedrohung. In vielen Reaktionen zeigte sich ein antisemitischer „Bodensatz“ sowie der „sekundäre“ Antisemitismus, der Juden nicht trotz, sondern wegen des Holocaust und seiner Folgen ablehnt und abwertet.[52]

Rechtsextreme

Rechtsextreme Gruppen und Parteien gehören nach wie vor 1990 zu den Hauptträgern antisemitischer Hetze und Straftaten in Deutschland, obwohl Ausländer, Asylbewerber und Einwanderer zur Hauptzielgruppe ihrer Angriffe geworden sind. Dabei bejahen nur einige Neonazigruppen offen den rassistischen Vernichtungsantisemitismus der NS-Zeit. Aus machttaktischen Gründen und um Strafverfolgung zu vermeiden, vertreten sie meist den sekundären, geschichtsrevisionistischen und Israel-bezogenen Antisemitismus, der sich als Antizionismus ausgibt. Dabei benutzen sie „die Zionisten“ als Codewort für „die Juden“. Jedoch greift ihre Propaganda, wie sie etwa in der National-Zeitung vorkam, unverkennbar auf traditionelle Stereotype des „geldgierigen Juden“ zurück, der das deutsche Volk moralisch belaste, finanziell auspresse und kulturell „zersetze“.

Andere von Rechten benutzte Codewörter und Anspielungen auf judenfeindliche Stereotype sind beispielsweise die Begriffe „Israellobby“, also die Vorstellung einer jüdischen Beherrschung der Politik, „Finanzkapital“, „internationale Hochfinanz“, „Zinsknechtschaft“ oder „Ostküste“ (der USA), womit eine vermeintliche Vorherrschaft jüdischer Bankiers an der Wall Street angedeutet wird. Buttons und Aufkleber aus dem NPD-nahen Umfeld mit dem Slogan „Keine Macht den Nasen!“ wiederum benutzen ein Stereotyp, das auch im nationalsozialistischen Hetzblatt Der Stürmer zu finden war, das in seinen Karikaturen Juden häufig mit einer besonderen Nasenform, der sogenannten Krumm- oder Hakennase, abbildete.[53][54]

Rechtsextremisten verbreiten in Deutschland verbotene holocaustleugnende Texte über Auslandsserver und in pseudowissenschaftlicher Aufmachung im Internet. Auch wo sie Juden nicht explizit erwähnen, unterstellen sie den Holocaustüberlebenden in antisemitischer Tradition eine konspirative, systematische Manipulation und Fabrikation von Holocaustdokumenten für „Geschichtslügen“.

Die von Gary Lauck (USA) gegründete NSDAP-Aufbauorganisation verbreitete Plakate und Aufkleber mit antisemitischen Parolen, etwa „Kampf den Judenparteien“, „Kommunismus – Werkzeug der Juden“ und „Kauft nicht bei Juden“, sowie Spiele wie „Jude ärgere dich nicht“, „KZ-Manager“ oder Anleitungen zum Erschießen von „Kindern der Juden“. Die Rechtsrock-Band Macht & Ehre hetzte mit Zeilen wie „Er ist kein Mensch, er ist ein Jud', drum denk nicht nach und schlag ihn tot“. Rechtsextreme Esoteriker beschreiben „die Illuminaten“ als heimliche Weltverschwörer und identifizieren sie mit „den Juden“. Jan Udo Holeys Pamphlet Geheimgesellschaften (1993; 1995) griff auf die Protokolle der Weisen von Zion zurück und verknüpfte sie mit UFO- und Alien-Fiktionen.[55]

Anders als anderen aus der „Volksgemeinschaft“ ausgegrenzten und bekämpften Gruppen schreiben Rechtsextremisten Juden eine sehr große, heimtückische und gefährliche Macht zu. Antisemitismus ist Grundkonsens und ein Integrationsfaktor der ansonsten uneinheitlichen Szene. Juden gelten ihnen als moralisch verdorben, als ausbeuterische „Finanzmacht“ oder als biologische Gefährdung der deutschen „Rasse“.[56] Westdeutsche Neonazis benutzten die deutsche Wiedervereinigung dazu, ihren Einfluss über Kontakte in ostdeutsche Länder zu vergrößern. 1991 begann eine Reihe neonazistischer Aufmärsche, rassistischer und fremdenfeindlicher Anschläge. Auch antisemitische Straftaten nahmen ab 1990 erheblich zu. Rechtsextreme Parteien wie NPD, Deutsche Volksunion (DVU) und Die Republikaner (REP) gelangten in einige Landtage.[27] Nachdem die Bundesregierung 1992 einige Neonazigruppen verboten hatte, unterliefen sie die Verbote als dezentrale „Freie Kameradschaften“.

Deutsche Rechtsextremisten griffen Walsers Friedenspreisrede und Finkelsteins These einer Holocaustindustrie zum angeblichen Ausbeuten jüdischen Leides begeistert auf, da sie ihr antisemitisches Bild bestätigte, „die Juden“ seien Eintreiber überhöhter Entschädigungsansprüche und Verursacher von Finanzlasten für „die Deutschen“. Hinter der gesamten Erinnerungskultur zur NS-Zeit und der Holocaustforschung stehe ein ausbeuterisches jüdisches Netzwerk für Macht und Profit. Finkelstein diente dabei als klassischer „Alibijude“, der es ja wissen müsse. Weil er wie Ernst Nolte geschichtsrevisionistische Autoren gewürdigt hatte, feierten ihn Holocaustleugner wie Ernst Zündel besonders.[57]

Die Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU), die 2000 bis 2007 unentdeckt neun gezielt ausgesuchte Muslime ermordete, war auch antisemitisch eingestellt. Ihr Mitglied Uwe Böhnhardt hängte 1996 an einer Autobahnbrücke einen Puppentorso mit einem gelben Judenstern auf und zeigte damit, dass auch Juden im Visier des NSU waren.[58]

Rechtspopulistische Parteien und Bewegungen und Vertreter der Neuen Rechten distanzieren sich oftmals vom Antisemitismus und vertreten bisweilen sogar vermeintlich pro-jüdische und pro-israelische Positionen. Viele rechtspopulistische und neurechte Narrative, die von einer Zersetzung von „Volk“ und „Identität“ durch eine Verschwörung „globalistischer Eliten“ ausgehen, weisen jedoch große Übereinstimmungen mit dem Antisemitismus auf.[59][60]

{{#invoke:Vorlage:Anker|f |errCat=Wikipedia:Vorlagenfehler/Vorlage:Anker |errHide=1}} Die Linke

Antisemitismusforscher stellen auch bei deutschen Linken antisemitische Tendenzen fest. Diese äußern sich seit dem Sechs-Tage-Krieg 1967 als Antizionismus, der Kritik an israelischer Politik gegenüber den Palästinensern zur Ablehnung des jüdischen Staates verallgemeinert.[61] Antiimperialisten sehen Israel als Brückenkopf des US-Imperialismus zur Unterdrückung der Palästinenser und Beherrschung der Nahostregion. Sie solidarisieren sich oft mit Terrorgruppen wie Hamas und Hisbollah, die den Staat Israel zerstören wollen. Dabei zeigen sich auch ideologische Gemeinsamkeiten mit Islamisten, etwa bei Linksruck.[62]

Bei Linken verbreitet ist auch eine verkürzte Kapitalismuskritik, die ein „schaffendes“ (nationales, deutsches) von einem „raffenden“ (jüdischen) Kapital unterscheidet.[63] Die Gegenüberstellung ist seit den Wirtschaftskrisen im Kaiserreich gängig: Als der Kapitalismus die Gleichheitsversprechen der Bürgerrechte nicht einlöste, identifizierten rechte wie linke Antisemiten „die Juden“ mit dem zirkulierenden, sich ohne Arbeit vermehrenden Finanzkapital und stellten sie als das Schicksal der Menschheit bestimmende weltumspannende „jüdische Geldmacht“ dar, etwa mit Symbolen von Kraken, Schlangen und Spinnen.[64] Solche Metaphern erscheinen heute auch im Kontext von Antiamerikanismus, etwa als das Mitgliedermagazin der IG Metall US-Firmen als Stechmücke mit krummer Nase darstellte und „Aussauger“ nannte, oder als Franz Müntefering (SPD) US-amerikanische Hedgefonds mit das deutsche Kapital bedrohenden Heuschrecken verglich.[65]

In der Globalisierungskritik von Attac Deutschland wurden 2003 antisemitisch interpretierbare Plakate und Aussagen vom „Finanzkapital“ und „der Wall Street“ bemerkt. Die Kritik führte zu einer intensiven, von Wissenschaftlern begleiteten Mitgliederdebatte. Tendenzen zur Aufteilung der Welt in Gut und Böse, zur Konstruktion von Verschwörungstheorien und Personalisierung abstrakter Herrschaftsverhältnisse wurden wahrgenommen, aber die Gleichsetzung jeder Kritik an Finanzmärkten mit Antisemitismus wurde zurückgewiesen.[66] Auch in anderen linken Gruppen führte Kritik etwa seitens der Antideutschen zu einer kritischen Reflexion antisemitischer Aussagen, zu ihrer Einstellung oder zur Isolation der Betroffenen innerhalb der linken Bewegung.

Die Kampagne BDS

Viele linke Nichtregierungsorganisationen unterstützen die 2005 entstandene Kampagne Boycott, Divestment and Sanctions (BDS). Dagegen verweisen Antisemitismusforscher auf die Ziele der BDS-Gründer, den Staat Israel aufzulösen, und die historische Kontinuität zum nationalsozialistischen Judenboykott.[67]

Muslime

Ab 2002 während der zweiten Intifada griffen muslimische Jugendliche aus Zuwandererfamilien Juden in Deutschland wie überhaupt in Europa öfter an, begingen aber nur vereinzelt antisemitische Straftaten. Als Tatmotiv wurde dabei kaum die Religion festgestellt, sondern eine durch die Medienpräsenz des Nahostkonflikts verschärfte diffuse Israelfeindschaft, bei der sich die Täter mit den Palästinensern identifizieren, weil sie sich ausgeschlossen und perspektivlos fühlen, Diskriminierung und Rassismus erleben. Laut einer Studie für das Bundesinnenministerium von 2007 stimmten 15,7 % der befragten muslimischen Schüler gegenüber 7,4 % der nichtmuslimischen Jugendlichen mit Migrationshintergrund und 5,7 % der nichtmuslimischen Einheimischen dem Satz zu, dass „Menschen jüdischen Glaubens überheblich und geldgierig“ seien. Da nach anderen Umfragen seit 2002 auch etwa 20 % aller unterschiedslos befragten Deutschen Juden für geldgierig und 36 % für „zu mächtig“ in der Wirtschafts- und Finanzwelt halten, werden Unterschiede zwischen Muslimen und Nichtmuslimen in Deutschland nicht bei diesen antisemitischen Vorurteilen, sondern deren Motiven gesucht.[68] Auch eine vom Institut IFES im Auftrag des österreichischen Parlaments durchgeführte Antisemitismus-Studie kommt zum Ergebnis, dass Judenfeindlichkeit unter türkisch- oder arabischsprachigen Personen in Österreich massiv erhöht ist. In dieser Gruppe liegt der Antisemitismus bei 50 bis 70 %, während in der österreichischen Gesamtbevölkerung ein Wert von lediglich 10 % erhoben wurde.[69]

In einer Studie des Projekts „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ der Universität Bielefeld von 2010 stimmten 20,2 % der befragten deutschen Jugendlichen ohne, 26,7 % mit polnischem Migrationshintergrund der Aussage „Ich bin es leid, immer wieder von den Verbrechen an den Juden zu hören“ voll zu. Der Aussage „Was der Staat Israel mit den Palästinensern macht, ist im Prinzip nichts anderes als das, was die Nazis im Dritten Reich mit den Juden gemacht haben“ stimmten 7,2 % der befragten deutschen Jugendlichen voll, 25,5 % eher zu; anteilig etwa gleich viele aus der Sowjetunion oder Polen stammende Befragte. 40,7 % der Befragten mit muslimisch-arabischem Sozialisationskontext stimmten dieser Aussage voll, 18,7 % eher zu. Die Autoren führen diesen höheren Zustimmungsgrad auf die für muslimische Jugendliche größere Rolle des Nahostkonflikts sowie häufiger erlebte Benachteiligung und Versagenserlebnisse zurück. Letztere Faktoren korrelierten auch bei anderen Befragten mit höherer Zustimmung zu sekundär antisemitischen Stereotypen. Auch deutsche Schüler kompensierten eigene Abwertungserfahrung mit Aufwertung der eigenen Gruppe gegenüber den „Fremden“ und trugen einen islamfeindlichen Alltagsdiskurs in die Schule.[70] In einer großangelegten Jugendstudie von 2009 ließ sich eine deutlich negativere Bewertung von Juden als mögliche Nachbarn bei befragten 15-jährigen Schülern aller Herkunftsregionen einschließlich Nord- und Westeuropa beobachten, sie war aber bei Jugendlichen aus dem Libanon, der Türkei und anderen islamisch geprägten Ländern am stärksten ausgeprägt. Türkeistämmige muslimische Migranten neigten im Vergleich jedoch weniger zu Antisemitismus als jene aus den Ländern des Nahen Ostens.[71]

Antisemitismusforscher bemerken seit etwa 2010 ein gewachsenes Medieninteresse an antisemitischen Einstellungen bei Muslimen, vor allem Jugendlichen arabischer oder türkischer Herkunft. Juliane Wetzel vermutet, dass es islamfeindliche Stimmungen bedient und eine Stellvertreterfunktion erfüllt, um sich nicht mit antisemitischen Stereotypen in der Mehrheitsgesellschaft auseinanderzusetzen. Viele Medienberichte missachteten die historische Tatsache, dass christliche Missionare und europäische Kolonialmächte Antisemitismus in die arabische Welt trugen, nicht umgekehrt. Die isolierte Betrachtung antisemitischer Tendenzen bei Muslimen könne deren Ausgrenzung verstärken. Das Thema dürfe nicht ausgespart, müsse aber als gesamtgesellschaftliches Phänomen betrachtet werden. Klaus Holz betonte schon 2006, dass es zwischen Herkunft und Antisemitismus keine monokausale Beziehung gibt und Antisemitismus unter zugewanderten Muslimen sich häufig erst wegen Erfahrungen im Einwanderungsland entwickelt.[72]

Infolge der Flüchtlingskrise in Deutschland 2015/2016 wurden Probleme mit antisemitisch eingestellten Migranten befürchtet.[73] Da viele Geflüchtete aus Ländern wie Syrien, Afghanistan und dem Irak stammen, in denen der Antisemitismus ebenso wie die Ablehnung Israels stark ausgeprägt sind, entwickelte sich vor allem in jüdischen Gemeinschaften die Angst vor einem importierten Antisemitismus. Die seit 2012 gezielt gegen Juden gerichteten Terroranschläge und die Ausschreitungen während des Gaza-Krieges spielten hier ebenfalls eine Rolle. So befürchtete Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, ein unkontrollierter Zuzug von Flüchtlingen könne jüdisches Leben in Deutschland gefährden. Er warnte vor juden- und israelfeindlichen Tendenzen bei Flüchtlingen aus mit Israel verfeindeten Staaten und schlug vor, antisemitische Ressentiments zu einem zentralen Thema in den Integrationskursen zu machen sowie mit den Kursteilnehmern KZ-Gedenkstätten oder jüdische Museen zu besuchen.[74] Inwiefern solche verordneten Besuche z. B. von KZ-Gedenkstätten eine schnelle Haltungsänderung bewirken, ist laut Embacher/Edtmaier/Preitschopf fraglich, zumal „Empathie mit jüdischen Opfern nicht unbedingt ein positives Israel-Bild zur Folge haben“ müsse.[75]

Eine im Auftrag des American Jewish Committee Berlin (AJC) 2015/16 durchgeführte Befragung von Lehrerinnen und Lehrern an 21 Berliner Schulen in acht Bezirken belegte wachsende salafistische Einflüsse und Judenfeindschaft unter Schülern mit türkischem und arabischem Migrationshintergrund. Der Hass gegen Juden sei dabei ein zentraler Bestandteil der salafistischen Ideologie.[76]

Einige Studien zum Antisemitismus unter Flüchtlingen aus arabischen und nordafrikanischen Ländern bzw. Regionen des Nahen und Mittleren Ostens zeigen, dass es ein relativ hohes Ausmaß antisemitischer Einstellungen und deutliche Wissenslücken zum Judentum wie auch zum Holocaust und dem Israelisch-Palästinensischen Konflikt gibt, wenn auch Unterschiede zwischen den Herkunftsländern deutlich werden. Die Ablehnung Israels ist verbreitet, wobei viele Befragte zwischen Juden, Israelis und dem Staat Israel unterscheiden wollen.[77] Laut einem Gutachten für den Integrationsbeauftragten der Bundesregierung führt jedoch die mit antisemitischen Motiven kombinierte Delegitimation des Staates Israel, etwa bei der jährlichen Demonstration zum al-Quds-Tag in Berlin, die „immer wieder behauptete Unterscheidung von Zionisten und Juden ad absurdum“.[78]

Eine 2016 und 2017 durchgeführte Studie, bei der 152 Geflüchtete aus Syrien und dem Irak befragt worden waren, ergab, dass antisemitische Stereotype eher die Regel als die Ausnahme waren, auch wenn sich kaum offener Hass zeigte. Verschwörungsfantasien hinsichtlich der Entwicklungen im Nahen und Mittleren Osten und die Überzeugung, die Welt würde von Juden oder Israel kontrolliert, wurden oft als normal und legitim empfunden. Entsprechende Denkweisen waren auch unter denjenigen verbreitet, die betonten, dass sie das Judentum „respektieren“ oder dass das Zusammenleben von Juden, Muslimen und Christen in den Herkunftsländern oder Deutschland unproblematisch sei. Fast alle arabischen Interviewten hatten ein negatives Israelbild und stellten Israels Existenzrecht in Frage. Vor allem angesichts der Verbrechen des IS und des Assad-Regimes in Syrien brach jedoch das Feindbild Israel vereinzelt auf. Kurden äußerten sich zu Israel öfter neutral oder positiv. Auch Jesiden und Angehörige anderer Minderheiten ihrer Herkunftsländer zeigten projüdische und proisraelische, aber auch philosemitische Einstellungen, etwa indem sie. „die Juden“ für ihre vermeintliche Macht und Cleverness bewunderten.[79]

Eine von Ende 2021 bis Frühjahr 2022 durchgeführte Studie der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung, bei der rund 5500 Menschen befragt worden waren – darunter mindestens 500 Muslime, womit der Anteil prozentual etwas höher als im Bundesdurchschnitt lag –, führte zum Ergebnis, dass unter Muslimen 12 Prozent der Aussage zustimmten, dass Juden „hinterhältig“ seien (im Bevölkerungsschnitt vier Prozent). 26 Prozent der Muslime stimmten der Aussage zu, dass reiche Juden „die eigentlichen Herrscher der Welt“ seien (im Bevölkerungsschnitt sechs Prozent). Sieben Prozent akzeptierten antisemitische Gewalt (Bevölkerungsschnitt zwei Prozent) und 16 Prozent bejahten die Ansicht, dass Israel als Staat nicht existieren solle (Bevölkerungsdurchschnitt vier Prozent). Die Studie ergab zudem, dass auch unter Personen mit geringerem Bildungsabschluss, Menschen mit Migrationshintergrund sowie innerhalb der AfD-Anhängerschaft die Zustimmung zu antisemitischen Aussagen höher lag.[80]

Antisemitische Einstellungen

Eine sozialwissenschaftliche Studie der Universität Erlangen in den neuen Bundesländern ergab 1990 folgende Zustimmungswerte:

Aussage Prozent
„Juden arbeiten mehr mit Tricks als andere“ 11,6
„Alle Juden sollen nach Israel gehen“ 11,4
„Es gibt Fehler, die liegen den Juden im Blut“ 10,9
„Juden kümmern sich nur um das eigene Wohlergehen“ 10,8

Emnid ermittelte dagegen 1991 für andere antisemitische Items durchschnittlich nur 4 % Zustimmung bei Ostdeutschen gegenüber 16 % bei Westdeutschen. Bei fast allen Fragen außer zu Israel lag der ostdeutsche deutlich unter dem westdeutschen Wert. Dies wird auf das Nachwirken der DDR-Propaganda (Tabuisierung des Antisemitismus bei gleichzeitigem Antizionismus) zurückgeführt.[81]

Während der Serie ausländerfeindlicher Anschläge ab 1991 nahmen antisemitische Einstellungen in der Gesamtbevölkerung nicht zu, wohl aber bei ostdeutschen jungen Männern: Der Aussage „Die Juden sind Deutschlands Unglück“ stimmten 14 % der 14- bis 18-Jährigen zu, dabei 33 % Lehrlinge (weibliche 10 %), 16 % Schüler (weibliche 4 %), besonders die, die sich politisch rechts einordneten. In Sachsen und Sachsen-Anhalt fanden bei dieser Altersgruppe antisemitische Vorgaben 12 %, fremdenfeindliche 29 % und nationalistische 50 % Zustimmung. Während von 1990 bis 1996 weniger erwachsene Ostdeutsche als Westdeutsche antisemitisch eingestellt waren, lag der Anteil bei Jugendlichen in Brandenburg doppelt bis dreimal so hoch wie in Nordrhein-Westfalen (NRW), besonders bei Schülern der 8./9. Klasse (34 % / 11 %) und Lehrlingen im dritten Lehrjahr (44 % / 25 %). Gegen den Bundestrend einer Abnahme antisemitischer Vorurteile besonders in der jüngsten befragten Altersgruppe (1998: 10 % bei 14- bis 20-Jährigen) wurden die gering gebildeten, handarbeitenden und rechtsorientierten jungen Männer in Ostdeutschland immer stärker antisemitisch, ausländerfeindlich und nationalistisch. So erhielt die rechtsextreme DVU bei 18- bis 30-jährigen Männern in Sachsen-Anhalt 1998, in Brandenburg 1999 anteilig die meisten Stimmen. Dabei lässt sich der Zuwachs antisemitischer Vorurteile nur teilweise aus Faktoren wie Arbeitslosigkeit der Väter, Vereinzelung, Fremdsteuerungs- und Ohnmachtsgefühlen und fehlenden Zukunftsperspektiven erklären.[82]

Nach Allensbach-Umfragen von 1995 neigten 15 bis 25 % der Deutschen zu antisemitischen Meinungen oder vertraten sie. Bei Umfragen der Universität Potsdam von 1996 in einzelnen Bundesländern ergaben sich im Osten etwa doppelt so hohe Zustimmungswerte zu antisemitischen Aussagen (etwa zum Verständnis für Schändungen jüdischer Friedhöfe) wie im Westen. Eine repräsentative Forsa-Umfrage von 1998 ergab folgende prozentuale Zustimmungswerte:

Aussage / Frage Prozent
„Der Einfluß von Juden auf die Wirtschaft steht im Mißverhältnis zu ihrem Bevölkerungsanteil.“ 41
„Viele Juden versuchen aus der Vergangenheit ihren Vorteil zu ziehen und die Deutschen dafür zahlen zu lassen.“ 38
„Juden fühlen sich mit Israel verbunden. Sie interessieren sich wenig für die Belange ihres Heimatlandes.“ 25
„Juden haben zuviel Einfluß.“ 21
„Juden haben etwas Besonderes und Eigentümliches an sich und passen deshalb nicht zu uns.“ 18
„Man kann Juden an ihrem Aussehen erkennen.“ 18
„Durch ihr Verhalten sind Juden an ihrer Verfolgung nicht ganz unschuldig.“ 17
„Die Juden haben deswegen soviele Schwierigkeiten, weil Gott sie dafür bestraft, dass sie Jesus Christus gekreuzigt haben.“ 8
„Wäre es für uns Deutsche am besten, wenn alle Juden nach Israel gingen?“ 9

Danach waren 1998 durchschnittlich mindestens 20 % der Deutschen klare Antisemiten. Bei latenten antisemitischen Vorurteilen gab es keine Ost-West-Unterschiede mehr. Bei über 65-Jährigen lagen die Anteile mit 38 % am höchsten. Unter den Jüngeren waren sie bei Hauptschülern mit 30 % gegenüber 12 % bei Abiturienten am höchsten. Unter denen, die sich „Rechts“ einordneten, lagen sie bei 24, „Mitte“ bei 20, „Links“ bei 11 %. Bei der erneuten Forsa-Umfrage 2003 äußerten sich durchschnittlich 23 % antisemitisch. 61 % stimmten der Aussage „Man soll endlich einen Schlussstrich unter die Diskussion der Judenverfolgung ziehen“ zu.[83] Das Ost-West-Gefälle bei Jugendlichen verstärkte sich: Im Jahr 2000 waren in Brandenburg im Durchschnitt 29,5 %, in NRW 11 % der Jugendlichen antisemitisch.[84]

Nach Umfragen von 2002 und 2003 nahmen antisemitische Einstellungen bei den Deutschen erheblich zu:[85]

Aussage Prozent
„Israel ist eine große Bedrohung für den Frieden in der Welt“ 65 (europaweit: 59)
„Die Juden nutzen die Holocausterinnerung zu ihrem eigenen Vorteil“ 52
„Die Juden üben einen zu großen Einfluss auf das Weltgeschehen aus“ 40
[Man kann] „gut verstehen, dass manchen Leuten Juden unangenehm sind“ 36 (1999: 20)
„Rache und Vergeltung spielen für Juden eine größere Rolle als für andere Menschen“ 35
„Juden fühlen sich mit Israel verbunden. Sie interessieren sich wenig für die Belange ihres Heimatlandes“ 35
„Der jüdische Einfluss auf die US-Politik war ein entscheidender Faktor bei der Militäraktion gegen den Irak“ 26
„Die Juden sind schuld daran, dass wir so große Weltkonflikte haben“ 20
[Möglich,] „dass die US-Regierung die Anschläge vom 11. September selbst in Auftrag gegeben haben könnte“ 19

Die Studie des Frankfurter Sigmund-Freud-Instituts und der Universität Leipzig vom Juni 2002 ergab einen Anteil von durchschnittlich 36 % deutschen Antisemiten. Der starke Anstieg wird auch mit der Enttabuisierung judenfeindlichen Verhaltens in der von Jürgen Möllemann ausgelösten Antisemitismusdebatte erklärt.[86]

Nach einem Ländervergleich der Anti Defamation League vertraten im Jahr 2014 durchschnittlich 27 % der befragten Deutschen antisemitische Einstellungen.[87] Die Zunahme geht mit weltweit gestiegener Akzeptanz für Antisemitismus und Abwehr, Relativierung und Bagatellisierung dieses Problems einher, besonders im Internet.[88]

Nach einer 2019 veröffentlichten Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung stimmten zwar nur acht bzw. 7,5 Prozent der Bevölkerung den Thesen zu, dass „Juden in Deutschland zuviel Einfluss“ hätten bzw. „durch ihr Verhalten an Verfolgungen mitschuldig“ seien. Hingegen stimmten 21,6 Prozent der Befragten Aussagen des sekundären Antisemitismus wie z. B. „Viele Juden versuchen, aus der Vergangenheit des Dritten Reichs heute ihren Vorteil zu ziehen“ zu. Als Israelkritik kostümierter Antisemitismus war deutlich ausgeprägter: Die Aussage „Bei der Politik, die Israel macht, kann ich gut verstehen, dass man etwas gegen Juden hat“ fand bei 26,6 Prozent Zustimmung. Fast 40 Prozent stimmten mit einer Täter-Opfer-Umkehr wie der These, dass Israel sich den Palästinensern gegenüber genauso verhalte, wie Deutschland es während der NS-Zeit gegenüber Juden getan habe, überein. Anders als bei anderen Abwertungsphänomenen spielt bei antisemitischen Einstellungen der Bildungsabschluss eine geringere Rolle. Unter Befragten mit geringerem oder mittlerem Schulabschluss ist Antisemitismus weiter verbreitet als unter jenen mit höherem Schulabschluss – dieser Unterschied hinsichtlich der Bildung spielt allerdings beim klassischen Antisemitismus eine stärkere Rolle als beim israelbezogenen.[89][90][91]

Eine Anfang Oktober 2019 (vor dem Anschlag auf die Synagoge in Halle) veröffentlichte repräsentative Umfrage des Jüdischen Weltkongresses mit 1000 Teilnehmern ergab 2019, dass 27 Prozent aller Deutschen und 18 Prozent einer als „Elite“ kategorisierten Bevölkerungsgruppe (Hochschulabsolventen mit einem Jahreseinkommen von mindestens 100.000 Euro) antisemitische Gedanken hegen. 41 Prozent der Deutschen sind laut der Studie der Ansicht, Juden redeten zu viel über den Holocaust. 28 Prozent der befragten Hochschulabsolventen behaupteten zudem, Juden hätten zu viel Macht in der Wirtschaft, und 26 Prozent attestierten Juden „zu viel Macht in der Weltpolitik“. 48 Prozent vertraten die Ansicht, dass Juden sich loyaler zu Israel als zu Deutschland verhielten. 12 Prozent aller Befragten gaben an, Juden trügen die Verantwortung für die meisten Kriege auf der Welt, und 22 Prozent meinten, Juden würden wegen ihres Verhaltens gehasst. 11 Prozent sagten, die Juden hätten kein Recht auf einen eigenen Staat Israel. Nach Meinung der Befragten sind weit überwiegend die Rechtsextremisten (39 %), rechte Politiker und Parteien (36 %), muslimische Extremisten (33 %) und muslimische Immigranten (18 %) für den Antisemitismus in Deutschland verantwortlich, Linksextreme und linke Parteien und Politiker jedoch nur zu 3 %. Zwei Drittel der Befragten der sogenannten Elite würden eine Petition gegen Antisemitismus unterzeichnen und ein Drittel aller Befragten würde gegen Antisemitismus auf die Straße gehen.[92][93]

Laut einer 2022 vom Institut für Demoskopie Allensbach vorgestellten und vom American Jewish Committee (AJC) in Auftrag gegebenen Studie denken 23 Prozent der Gesamtbevölkerung, Juden hätten zu viel Macht in Wirtschaft und Finanzwesen; 18 Prozent meinen einen zu großen jüdischen Einfluss in Politik und Medien festzustellen. Elf Prozent vertreten die Ansicht, dass Juden für viele Wirtschaftskrisen verantwortlich seien. Fast jeder Zweite erachtet eine Erinnerungskultur hinsichtlich der Jahre des Nationalsozialismus als nicht „unbedingt notwendig“. Generell sei Antisemitismus „keinesfalls nur ein Problem der politischen Ränder“, so AJC-Direktor Lemko Reemhuis. Anhänger der AfD erwiesen sich als noch anfälliger gegenüber antisemitischen Denkmustern als der Bevölkerungsgesamtdurchschnitt. Auch der israelbezogene Antisemitismus wird in der Studie hervorgehoben. Unter den Muslimen gaben 63 Prozent an, ein schlechtes oder sehr schlechtes Bild über den jüdischen Staat zu haben – gegenüber 23 Prozent in der Gesamtbevölkerung. Die Studie geht davon aus, dass zwischen Antisemitismus und Moscheebesuchen ein Zusammenhang besteht, was auch darauf zurückzuführen sei, dass viele Moscheen in Deutschland unter ausländischem Einfluss stünden, beispielsweise der Türkei oder des Iran. Der Antisemitismusbeauftragte Felix Klein erklärte dazu, man müsse die „Abhängigkeiten und die Einflüsse von außen verringern“ und eine „spezifisch deutsche Form des Islams“ entwickeln.[94]

Antisemitische Straftaten

Die polizeiliche Kriminalstatistik-Staatsschutz (PKS-S) des Bundeskriminalamts (BKA) wies antisemitische Straftaten bis 1993 nicht aus, sondern subsumierte sie unter „fremdenfeindliche“ oder „normale“ Kriminalität. Ab Mitte 1993 wurde ein Kriminalpolizeilicher Meldedienst für versuchte und vollzogene antisemitische, fremdenfeindliche und rechtsextreme Straftaten eingerichtet. Diese Statistiken erfassen zeitnah mehr solche Delikte, geben aber keine Auskunft über die weiteren Ermittlungen.[95]

Von 1990 bis 1994 vervierfachten sich die registrierten antisemitischen Straftaten und sanken dann bis 1999 auf rund 150 % mehr als anfangs. Insgesamt stiegen sie langsamer und weit geringer als (andere) rechtsextreme Taten, die sich bis 1993 verneunfachten.[96]

Jahr Menge
1990 339
1991 388
1992 628
1993 649
1994 1366
1995 1155
1996 846
1997 976
1998 991
1999 817

Seit 2001 werden polizeilich gemeldete antisemitische Straftaten als Hasskriminalität in der Kategorie Politisch motivierte Kriminalität (PMK) erfasst. Als antisemitisch gilt „der Teil der Hasskriminalität, der aus einer antijüdischen Haltung heraus begangen wird.“[97] Dazu zählen vor allem Holocaustleugnung, die Diffamierung jüdischer Institutionen und ihrer Vertreter und Sachbeschädigungen an jüdischen Mahnmalen, Gedenkstätten und Gräbern.[98] Solche Taten gelten generell als extremistisch, können aber je nach objektiven Tatumständen und subjektiven Tatmotiven in mehrere Statistiken eingeordnet werden.

Jedoch wird in Deutschland nur ein Bruchteil antisemitischer Angriffe bekannt. 2013 hatten laut Umfragen nur 28 %, 2016 nur 23 % der Opfer die Tat angezeigt; nur für 2 % hatten andere die Tat angezeigt oder die Polizei hatte selbst ermittelt. Als Grund, die Tat nicht zu melden, nannten 47 %, dass nach einer Anzeige nichts geschehe oder sie nichts ändere, 27 %, dass solche Taten andauernd passieren, 18 %, dass eine Anzeige zu bürokratisch und zeitaufwändig sei. Antisemitische Schmierereien und andere Propagandadelikte werden oft nicht angezeigt, weil sie niemand direkt treffen. Antisemitische Straftaten bei Demonstrationen werden kaum registriert. Bei antisemitischen Angriffen, die Beleidigung, Raub, Körperverletzung und Ähnliches einschließen, werden nur die am höchsten bestraften Tatanteile statistisch gezählt. Antiisraelische Straftaten werden teils als antisemitische, teils als vom Nahostkonflikt bedingte Hasskriminalität erfasst; wonach beides zu unterscheiden ist, erklärt der PMK-Themenkatalog nicht. Deutsche Polizisten kennen nicht alle Codes, Symbole und Parolen, etwa ausländischer Rechtsextremisten, und können daher antisemitische Tatmotive übersehen. Diese lassen sich bei nicht ermittelten Tätern, etwa von Schmierereien, nur vermuten. Oft vermeiden am Extremismuskonzept orientierte Polizeimeldestellen, selbst evidente politische Motive einer antisemitischen Tat anzuerkennen.

Ein weiteres Problem wurde u. a. durch die Beantwortung einer Anfrage des FDP-Abgeordneten Marcel Luthe durch den Berliner Senat allgemein bekannt: Demnach werden antisemitische Delikte pauschal als „rechtsmotiviert“ eingeordnet, wenn sie keiner Tätergruppe klar zuweisbar sind. Darunter fallen unspezifische Delikte (etwa ein Graffito „Juden raus“) unbekannter Täter, für die andere Anhaltspunkte fehlen.[99] Es ist wird daher vermutet, dass die Zahl der rechtsmotivierten antisemitischen Vorfälle überhöht, die anders motivierter Vorfälle jedoch untertrieben dargestellt wird. Beispielsweise wurden für das Jahr 2018 bei 70 % der Taten kein Verdächtiger ermittelt, in 60 % aller Taten wurden ausdrücklich keine rechtsextremen Hintergründe festgestellt und über 20 Prozent der Taten wurden von ausländischen Staatsangehörigen begangen, (wobei Personen mit doppelter Staatsangehörigkeit ebenso wie mit Migrationshintergrund für die Statistik als deutsche Staatsangehörige erfasst wurden). Dennoch wurden knapp 80 % der Taten in der Statistik als rechtsextrem bewertet.[100] Von Experten wird kritisiert, dass etwa antisemitische Straftaten aus islamistischen und anderen muslimischen Kreisen durch diese Vorgangsweise zu wenig beachtet würden. Anhand der objektiven Zahlen zu festgestellten Verdächtigen ergibt sich, dass der größte Teil an antisemitischen Straftaten aus „ausländischer Ideologie“ heraus, also etwa von Anhängern der antisemitischen Hamas oder Hisbollah in Deutschland, begangen werden.[101] Der vom Bundestag eingesetzte „Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus“ kritisierte diese Praxis bereits 2017 :

"Dies betrifft v. a. die Zuordnung zum Phänomenbereich »rechts«, die vorgenommen wird, sobald Bezüge zum Nationalsozialismus zu erkennen sind. Dies stellt nicht in Rechnung, dass NS-Symbole ein allgemeines, Judenfeindlichkeit zwar indizierendes, aber auch generell diffamierendes Mittel sind, dessen sich auch politisch nicht weit rechts stehende Täterinnen und Täter bedienen. Fremdenfeindliche und antisemitische Straftaten werden grundsätzlich immer dann dem Phänomenbereich PMK-Rechts zugeordnet, wenn keine weiteren Spezifika erkennbar sind (z.B. nur der Schriftzug »Juden raus«) und zu denen keine Tatverdächtigen bekannt geworden sind. Damit entsteht möglicherweise ein nach rechts verzerrtes Bild über die Tatmotivation und den Täterkreis."[102]

Das Bundesamt für Verfassungsschutz nennt in seinen Jahresberichten ab 2001 folgende Zahlen:[103]

Jahr Antisemitische Straftaten davon Gewalttaten Anti-israelische Straftaten davon Gewalttaten
2001 1.691
2002 1.771
2003 1.344
2004 1.449
2005 1.748
2006 1.809
2007 1.657
2008 1.559
2009 1.690
2010 1.268
2011 1.239
2012 1.374
2013 1.275 51 41 0
2014 1.596 45 575 91
2015 1.366 36 62 1
2016 1.468
2017 1.504 37
2018 1.799 69
2019 2.032 73
2020 2.351 57

Antisemitisch sind vor allem Zerstörungsaktionen gegen jüdische Friedhöfe. Diese haben seit dem Mittelalter gerade in deutschsprachigen Gebieten eine lange Tradition. Sie geschehen auch heute noch vermehrt während der Karwoche und um den 9. November (den Jahrestag der Novemberpogrome 1938) herum. Anders als bei anderen werden bei jüdischen Gräbern meist keine Beete zertrampelt, Blumen oder Leuchten gestohlen, sondern Grabsteine oder Grabplatten umgestürzt und zerstört, Grabbegrenzungen herausgerissen, Friedhofstore eingetreten und Ähnliches. Hinzu kommen Schmähparolen als Graffiti wie „Juda verrecke“, „Tod den Juden“, „Juden raus“, „Sieg Heil“, „Blut und Ehre“, „Viertes Reich“, „SS“, „SA“, „Judenschwein“ oder „Judensau“.[104]

Die Schändung jüdischer Friedhöfe wird seit 1945 statistisch zu erfassen versucht. Registriert wurden in Deutschland bis 1990 rund 1000 gemeldete Fälle; die vermutete Dunkelziffer liegt weit höher. Von 1990 bis 2000 gab es 409 registrierte Fälle, mehr als doppelt so viel wie von 1970 bis 1990. Das Grabmal von Heinz Galinski, dem früheren Leiter des jüdischen Zentralrats, wurde 1998 zwei Mal gesprengt, so dass sein Nachfolger Ignatz Bubis sich in Israel beerdigen ließ. Nach einer Studie von Adolf Diamant aus dem Jahr 1982 konnten nur 36,5 % der bis dahin bekannten Fälle aufgeklärt werden; fast alle davon ordneten die Behörden antisemitischen Tätern, 0,3 % davon „Jugendlichen“ ohne „politische Motive“ zu.[105] Nachfragen ergaben damals, dass die meisten Landesbehörden nicht darüber Buch führten und die angegebenen Motive auf reinen Annahmen beruhten. 2017 wurden 20, 2018 dann 27 antisemitisch motivierte Schändungen jüdischer Friedhöfe erfasst; nur drei Fälle wurden aufgeklärt.[106]

Auch Angriffe auf Synagogen (2017: 27; 2018: 21) und Erinnerungsstätten des Holocaust, etwa mit Graffiti, haben sich seit der deutschen Einheit enorm vermehrt. Die Täter werden besonders in Deutschland nur sehr selten gefunden. Die Verfolgung von Grabschändungen wird hier meist nach fünf Monaten eingestellt. Die Aufklärungsrate liegt im europäischen Vergleich fast an letzter Stelle.

Journalisten wie Anton Maegerle, Medien wie der SPD-nahe Blick nach Rechts, die Amadeu Antonio Stiftung und Privatinitiativen registrieren antisemitische Straftaten, etwa als regelmäßig veröffentlichte „Chronologie antisemitischer Vorfälle“.[107] Die 2015 in Berlin gegründete Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) registriert auch strafrechtlich nicht relevante und von Opfern nicht angezeigte antisemitische Übergriffe. Sie führte 2018 allein für Berlin 1083 (2017: 947) Delikte auf, darunter 46 (2017: 18) Angriffe, 46 (2017: 23) Bedrohungen, 43 (2017: 42) Sachbeschädigungen, 831 (2017: 679) Fälle verletzenden Verhaltens (davon 442 online – 2017: 325) und 117 (2017: 185) weitere Propagandavorfälle. Im Durchschnitt kommt es mindestens viermal täglich in Deutschland zu solchen Taten. Wegen fehlender einheitlicher Kriterien riet der Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus der deutschen Polizei und Justiz dazu, mit Nichtregierungsorganisationen zusammen ein möglichst realistisches Bild antisemitischer Straftaten zu erstellen.[108] RIAS ordnete für 2018 18 % der Vorfälle als rechtsextrem, 9 % als israelfeindlich, 2 % als islamistisch, 49 % als unbekannt ein.[109] Für die erste Jahreshälfte 2019 wurden RIAS im Schnitt pro Tag zwei judenfeindliche Vorfälle bekannt, die Dunkelziffer wurde weit höher geschätzt. Besonders gefährdet seien Personen, die etwa durch Tragen einer Kippa oder Telefonieren auf Hebräisch „als jüdisch erkennbar“ seien.[110]

2018 erfasste die Polizei in Berlin 324 antisemitische Taten. 253 davon ordnete sie als „rechts“ motiviert ein, drei als nicht zuzuordnen. Auf Nachfrage erklärte sie, in 191 Fällen seien keine Täter gefunden worden. Demnach wurden 120 Fälle ohne erkennbare Motive als rechtsextrem eingeordnet. Grund war, dass nur 111 aller Fälle (34 Prozent) aufgeklärt wurden und bei unspezifischen Parolen wie „Juden raus“ meist rechtsextreme Motive angenommen werden.[111]

Das BKA ermittelte für 2018 insgesamt 1799 antisemitische Straftaten, fast 20 % mehr als im Vorjahr. Sie wurden zu 90 % als „PMK rechts“ eingeordnet, wie auch 49 von 69 antisemitischen Gewalttaten. Gegenüber Kritik an möglicher falscher Zuordnung erklärte das BKA, die Bewertung politischer Straftaten durchlaufe eine „mehrstufige Qualitätskontrolle“. Diese habe in den letzten Jahren keine Hinweise auf eine „statistisch verzerrende Wirkung dieser Zuordnungsregel“ ergeben. Dagegen ordneten in einer Umfrage 81 % der befragten Opfer antisemitischer Gewalttaten die mutmaßlichen Täter einer „muslimischen Gruppe“ zu. Die Initiatoren der Umfrage stellten deren Aussagekraft in Frage, weil nur 16 Beteiligte von selbst erlebten Gewalttaten berichteten, die Herkunft der Täter oft nach ihrem Aussehen vermutet hatten und mehrfache Antworten möglich waren.[112]

Für Januar bis Juni 2019 registrierte das BKA bundesweit 442 antisemitische Straftaten.[113] 2019 wies die Kriminalstatistik Berlins 281 antisemitische Vorfälle (14,6 % weniger als 2018) aus.[114] 230 davon ordnete die Polizei als rechtsextrem, 40 als „ausländische Ideologie“, drei als „religiöse Ideologie“, einen Fall als linksextrem ein.[115] Die Strafverfolgungsbehörden leiteten 2019 in Berlin laut dem Jahresbericht der Berliner Antisemitismusbeauftragten Claudia Vanoni Verfahren zu 386 judenfeindlichen Taten ein. Davon wurden 169 Verfahren (44 %) mangels Hinweisen auf Täter oder Spuren eingestellt. Nur 27 Verfahren wurden 2019 rechtskräftig abgeschlossen, meist mit einer Geldstrafe, zwei mit einer Bewährungsstrafe.[116]

An Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag am 9. Oktober 2019, scheiterte in Halle (Saale) der Versuch eines Massenmordes an Juden: Nachdem dem Rechtsextremisten Stephan Balliet nicht gelungen war, in die Synagoge im Paulusviertel einzudringen, um dort versammelte Personen zu töten, reagierte er seinen Frust ab, indem er zwei Personen ermordete, die er zufällig traf (siehe Hauptartikel Anschlag in Halle (Saale) 2019).

Laut einer Antwort der Bundesregierung auf regelmäßige Anfragen von Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau kam es 2019 bundesweit zu so vielen judenfeindlichen Straftaten wie nie seit 2001, das Jahr, in dem die Kriterien zur Erfassung von Straftaten rechter, linker, islamistischer und anderer politischer Fanatiker erweitert und präzisiert wurden. Laut dem Antisemitismus-Beauftragten für Bayern Ludwig Spaenle gab es allein im Freistaat 2019 knapp 37 Prozent mehr Fälle als im Vorjahr.[117] Wie die Welt am Sonntag im Mai unter Berufung auf den Jahresbericht 2019 des Innenministeriums zur „Politisch motivierten Kriminalität“ (PMK) berichtete, gab es 2019 bundesweit rund 2000 Straftaten gegen Juden und jüdische Einrichtungen. Das bedeutet im Vergleich zum Vorjahr einen Anstieg um rund 13 Prozent.[118]

Im Jahr 2020 wurden in Deutschland auf Demonstrationen und im Internet vermehrt antisemitische Äußerungen verbreitet. Auch wurden 2020 mehr judenfeindliche Straftaten denn je seit ihrer Erfassung ab 2001 verübt: Erstmals seit 20 Jahren im Durchschnitt täglich sechs.[119][120]

Ende Februar 2022 teilte das Bundesinnenministerium auf eine Kleine Anfrage im Bundestag mit, dass 2021 bundesweit 3028 antisemitische Straftaten registriert wurden, ein Anstieg zum Vorjahr um etwa 30 Prozent. 2021 gab es demnach 63 Gewalttaten und 327 Propagandadelikte. Ein Tötungsdelikt mit vier Todesopfern Anfang Dezember 2021, bei dem der mutmaßliche Täter seine Ehefrau, drei Töchter und dann sich selbst erschossen hatte, wird ebenfalls als antisemitisches Verbrechen eingeordnet, da der Täter von der Existenz einer jüdischen Weltverschwörung überzeugt war, nämlich dass der Staat mit der COVID-19-Impfkampagne einen „bösen“ Plan verfolge, die Weltbevölkerung um die Hälfte reduzieren und eine neue Weltordnung unter jüdischer Führung aufbauen wolle.[121]

Nach Angaben der Bundesregierung wurden in der ersten Hälfte des Jahres 2022 bundesweit 945 Fälle gezählt gegenüber 1749 Straftaten im ersten Halbjahr 2021. Das entspricht einem Rückgang von rund 45 Prozent.[122] Das Bundeskriminalamt (Stand 28. Februar 2023) meldete, dass 2022 bisher 2639 judenfeindliche Straftaten verzeichnet worden seien (im Vorjahr 3028 Delikte), die Zahlen des vierten Quartals stünden aber noch aus. Die Zahl judenfeindlicher Gewalttaten sei hingegen im Vergleich zum Vorjahr von 63 auf 88 angestiegen.[123]

Corona-Pandemie

Felix Klein, der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, warnte Ende März 2020 vor massenhaft kursierender antijüdischer bzw. anti-israelischer Hetze und diesbezüglichen Verschwörungstheorien im Internet im Zuge der COVID-19-Pandemie. Die Krise liefere einen Nährboden für Beschuldigungen einzelner Personengruppen. „Krudester Antisemitismus“ breche sich Bahn. So werde absurderweise behauptet, die Pandemie sei durch einen fehlgeschlagenen Biowaffentest des Mossad ausgelöst worden. Auch von jüdischen Gewinnen aus einem möglichen Impfstoff, von Israel entwickelten Waffen und einem jüdischen Versuch zur Reduzierung der Weltbevölkerung sei die Rede. Klein rief dazu auf, antisemitische Diffamierungen den Plattformbetreibern zu melden. Außerdem kritisierte er scharf, dass Teilnehmer von Corona-Demos nachgebildete Judensterne trugen, um sich gegen eine vermeintliche Impfpflicht zu wehren. Auch durch den Vergleich der Maskenpflicht mit dem Tragen des Judensterns im Nationalsozialismus werde auf solchen Demonstrationen die Shoa relativiert. Das sei „absolut nicht hinnehmbar und sollte gegebenenfalls auch strafrechtlich verfolgt werden“, so Klein. Die Leiterin der RIAS Bayern Annette Seidel-Arpacı bezeichnete das Tragen von Judensternen auf diesen Demos als einen „Schlag ins Gesicht der jüdischen Bevölkerung“.[124][125][117][126][127] Zudem tauchten im Netz antisemitische Karikaturen auf wie die eines Juden in einem trojanischen Pferd, der so das Virus in eine Stadt einschleust. Es wurde unterstellt, das Virus sei von „den Zionisten“ in israelischen Laboren hergestellt worden, und es wurde dazu aufgefordert, Juden vorsätzlich mit dem Erreger anzustecken.[128] Der Verein „München ist bunt“ nannte als Beispiel für antisemitische Vorfälle während der Kundgebungen gegen die Corona-Maßnahmen eine während einer Demonstration in München von Teilnehmern verwendete Fotomontage, auf der zu sehen war, wie Menschen von Uniformierten, die den Davidstern tragen, gewaltsam geimpft werden.[129]

Nora Goldenbogen, die Vorsitzende des Landesverbands Sachsen der Jüdischen Gemeinden, sagte, sie habe Verschwörungstheorien „erwartet“. Diese kämen „in Krisen immer wieder hoch, mit teils seit dem Mittelalter bekannten Mustern und Beschuldigungen“. Der Landesverband erstattete Strafanzeigen, nachdem antisemitische Parolen im Leipziger Hauptbahnhof gehangen waren und jüdische Online-Gottesdienste von Rechtsextremen gehackt und angegriffen worden waren.[130]

Laut einem vertraulichen Bericht des israelischen Außenministeriums, der der Zeitschrift Die Welt vorlag, ergab eine Analyse, dass – nach den USA und Frankreich – aus Deutschland die meisten antisemitischen Äußerungen im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie ins Netz gestellt werden. Laut dieser Analyse verbreiten sich entsprechende Hassreden vor allem auf den gängigen Social-Media-Plattformen, insbesondere Twitter, Telegram, Reddit und Facebook. Bei der antisemitischen Propaganda sei Israel ein Hauptziel von Verschwörungstheoretikern, auch von Gruppen, die den palästinensischen Terrorismus unterstützten.[131]

Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, warnte im April 2020 davor, sich bei Demonstrationen gegen coronabedingte Beschränkungen mit Rechtsradikalen, die antisemitische Verschwörungsmythen und ihr radikales Weltbild verbreiteten, gemein zu machen. Daher müsse man sich bewusst machen, an wessen Seite man demonstriere. Gegen die derzeitigen Maßnahmen auf die Straße zu gehen und dabei Symbole zu benutzen, die an den Holocaust erinnerten, sei zudem geschmacklos und verhöhne die Opfer.[132]

Bei der Vorstellung des Jahresberichts des Dachverbands der Opferberatungsstellen VBRG sagte der Politikwissenschaftler Gideon Botsch vom Potsdamer Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien im Mai 2020: „Bei einigen Protesten gegen die Infektionsschutzmaßnahmen der letzten Wochen tritt, bei aller Unterschiedlichkeit der Teilnehmenden, der dauernd latent vorhandene Antisemitismus hinter dem Verschwörungsdenken nun offen zutage.“ Die „sehr rasante Dynamik der Aufheizungen“ lasse „neue rechtsterroristische Radikalisierungsschübe befürchten“.[133]

Ronen Steinke merkte nach der Demonstration in Berlin am 29. August 2020 gegen die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie an, die Demonstranten seien alle Antisemiten, insofern sie einer der Verschwörungstheorien anhängen, nach denen an der Pandemie Juden schuld seien.[134]

Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (RIAS Berlin) gab Anfang September 2020 bekannt, dass sie seit März 2020 in Berlin 75 antisemitische Vorfälle mit explizitem Corona-Bezug dokumentiert habe. 25 Versammlungen mit Corona-Bezug schätzte RIAS als antisemitisch ein, darunter die von März bis Juli wöchentlich abgehaltenen „Hygienedemos“ sowie die „Querdenker“-Demonstrationen im August 2020. RIAS-Projektleiter Benjamin Steinitz sagte, die Sichtbarkeit von Verschwörungsmythen sei dort sehr hoch, die Übergänge hin zu antisemitischen Positionen fließend.[135]

Der Präsident der Europäischen Konferenz der Rabbiner Pinchas Goldschmidt sagte Anfang 2021, in der Pandemie sänken die Hemmschwellen immer weiter und es werde versucht, „Geschichte umzuschreiben und zu verharmlosen“. „Antisemitische und antizionistische Hassbotschaften, sowohl im Netz als auch im Alltag auf der Straße“, werden laut Goldschmidt „immer unverhohlener skandiert“. Nach den Worten Rüdiger Mahlos, Repräsentant der Claims Conference in Deutschland, die die Ansprüche von Holocaust-Überlebenden vertritt, müssen diese Überlebenden in der Corona-Krise erleben, „wie Holocaust-Leugnung und -Verzerrung sowie antisemitische Ausfälle […] verstärkt um sich greifen“. Teenager sähen „sich durch die Einschränkungen während der Pandemie in der Rolle von Anne Frank; Schlagersänger vergleichen die pandemischen Bedingungen mit Zuständen in den KZs“. Das alles belaste und verängstige die Überlebenden zusätzlich.[136]

Aktuelle Tendenzen

Seit dem 11. September 2001 sprechen einige Forscher von einem „neuen“ Antisemitismus. Klaus Holz sieht das Neue in der Einigung radikaler Islamisten, Neonazis und mancher Linksextremisten auf einen antisemitischen Antizionismus: Sie alle sähen die Welt und sich selbst als Opfer irgendeiner jüdisch-zionistisch-kapitalistischen Verschwörung in Politik, Wirtschaft und Medien. Dabei stellten sie sich „die Juden“ als treibende Kräfte hinter den Kulissen vor, die zusammen mit der US-Regierung und Israel eine Weltherrschaft etablieren und die Völker zerstören wollten.[137] Auch der Sozialwissenschaftler Samuel Salzborn sieht „Verbindungslinien zwischen rechtem, linkem und islamischem Antisemitismus“. Diese Formen betrachtet er „als negative Leitidee der Moderne“. In ihnen werde der Hass auf Freiheit und Gleichheit projiziert. Ihr Weltbild schließe die abstrakten Strukturen und Logiken der modernen Gesellschaft und des bürgerlichen Staates aus. Das Gefühl hingegen richte sich in einer „kalten Instrumentalität“ nicht auf Individuen, sondern auf das „homogen phantasierte Kollektiv.“[138] Die Verantwortung der gesellschaftlichen Mitte liege darin, dass „in einem öffentlichen Klima, in dem Israelhass und antisemitische Schuldabwehr fortwährend öffentlich kommuniziert werden, auch rechter, linker und islamistischer Antisemitismus wieder alltäglicher“ würden.[139] Anfang 2019 kritisierte Salzborn, dass an deutschen Schulen eine Auseinandersetzung „mit dem aktuellen, gerade sogar tagesaktuellen Antisemitismus“ kaum stattfinde. Schüler bekämen „das Gefühl, dass mit der Niederschlagung des Nationalsozialismus der Antisemitismus aus der Welt geschafft worden sei“. Es gebe sogar Schulbücher, die die gegen Israel gerichtete Täter-Opfer-Umkehr befeuerten und Israel im Konflikt mit den Palästinensern als alleinigen Aggressor darstellen. Ein verbindliches Meldesystem für Antisemitismus an Schulen sei notwendig und Lehrkräfte müssten sich „allein an der Wahrheit orientieren und nicht an einer schwammigen, willkürlichen Diversität“.[140]